Chronik des Jahres 1989

JANUAR 1989

1.1. Mit Jahresbeginn tritt eine neue „Reiseverordnung“ in Kraft, die erweiterte Möglichkeiten für Privatreisen in den Westen bzw. auf ständige Ausreise vorsieht.

2.1. Nach 28 Jahren Verbannung kehrt der litauische Titularbischof Julijonas Steponavicius nach Wilna zurück. Er war von 1960 bis 1973 offiziell Apostolischer Administrator und lebte seit 1961 in der litauischen Grenzstadt Žagarė in der Verbannung. Nach seiner Rückkehr übernimmt er am 10. März 1989 das Amt des Erzbischofs von Vilnius.

3.1. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums registrieren die Aufnahmelager in der Bundesrepublik im Jahr 1988 mit 39.832 Übersiedler aus der DDR doppelt so viele wie im Vorjahr (1987: 18.985). Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter veröffentlicht ihre Bilanz für 1988. Danach sind insgesamt 1.232 Gewaltakte gegen Bürger in der DDR registriert worden. Die von den Ländern gegründete Behörde hatte 1961 ihre Arbeit begonnen. Bis zu ihrer Schließung 1992 wurden über 40.000 Aktenordner angelegt, in denen Informationen über das in der DDR begangene Unrecht gesammelt wurden. Dazu zählten politische Urteile, Misshandlungen, Verschleppungen und Denunziationen sowie die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze.

4.1. Der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan stimmt der geplanten „Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE“ in der sowjetischen Hauptstadt Moskau zu. Damit ist nach Ansicht von Beobachtern eines der letzten Hindernisse für die Abfassung des Abschlussdokuments beim KSZE-Folgetreffen in Wien beseitigt. Die polnische KP-Wochenzeitung „Polityka“ druckt erstmals ein Interview mit dem Vorsitzenden der verbotenen Gewerkschaft Solidarność, Lech Walesa. Mehrere hundert afrikanische Studenten treten in Peking – wie schon ihre Kommilitonen in anderen chinesischen Städten – in einen Vorlesungsstreik. Sie werfen den Chinesen Rassendiskriminierung vor.

5.1. Die evangelische Kirchenleitung in Ost-Berlin verurteilt die Ende 1988 entdeckten Abhöreinrichtungen in der Dienstwohnung von Pfarrer Rainer Eppelmann als Eingriff in das Seelsorgegeheimnis und stellt „Strafantrag“ gegen Unbekannt. Ein 34-Jähriger überwindet in Berlin-Lichtenrade die DDR-Sperranlagen. Der sächsische Landesbischof Johannes Hempel informiert die Superintendenten über die Gründung der „Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“. Der Superintendent des vogtländischen Kirchenbezirks Plauen, Thomas Küttler, erklärt zu den DDR-Verhältnissen: „40 Jahre sind genug!“

6.1. Das SED-Zentralorgan „Neue Deutschland“ berichtet unter dem Titel „Ich arbeite, weil mein Papa arbeitslos ist“ über angebliche Kinderarbeit in der Bundesrepublik.

7.1. Mit mehreren Schüssen wird am Kontrollpunkt Drewitz eine Flucht über die Berliner Mauer verhindert. In Berlin berät der DDR-weite Arbeits- und Koordinierungskreis über Wehrdienstprobleme. Der Kreis gehört zu „Frieden konkret“, dem größten Netzwerk kirchlicher und außerkirchlicher Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen in der DDR.

8.1. In einen „Brief an Christen in der DDR“ fordern mehrere Oppositionsgruppen dazu auf, für die DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai eigene Kandidaten aufzustellen.

9.1. Die neueste Ausgabe der Ost-Berliner „Umweltblätter“ berichtet, dass es nach dem Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR zu zahlreichen Protesten gekommen sei, die bis zu Arbeitsniederlegungen und SED-Parteiaustritten reichten. Mit ihrer Flucht in Bonns Ständige Vertretung in Ost-Berlin wollen neun DDR-Bürger ihre Ausreise in den Westen erzwingen.

10.1. In einem Text, der im Rahmen der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung erarbeitet wurde, üben die Kirchen Kritik an den politischen Verhältnissen in der DDR und unterbreiten Vorschläge zu deren Verbesserung.

11.1. In den späten Abendstunden tauchen in mehreren Stadtteilen von Leipzig Flugblätter auf, in denen für den 15. Januar, dem Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, zu einer Demonstration aufgerufen wird. Noch in der Nacht und an den folgenden Tagen kommt es zu zwölf Verhaftungen durch die DDR-Staatssicherheit. In Ost-Berlin verlassen knapp 20 DDR-Bürger die Ständige Vertretung. Ihnen war Straffreiheit und Überprüfung ihrer Ausreiseanträge zugesichert worden.

12.1. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ berichtet erstmals über Verbrechen, die während der Stalin-Ära in Moskau an deutschen Kommunisten begangen worden sind.

13.1. In Budapest wird die Sozialdemokratische Partei Ungarns wieder gegründet.

14.1. Bei einer Explosion in der Blockgießerei des Chemiekombinates Bitterfeld wird ein Strafgefangener tödlich, zwei weitere werden leicht verletzt; es entstehen fünf Millionen DDR-Mark Schaden.

15.1. Rund 500 Personen nehmen auf dem Leipziger Marktplatz an einer nicht genehmigten Kundgebung für Reformen in der DDR teil. Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, greifen Sicherheitskräfte ein und lösen die Versammlung auf. 53 Demonstranten werden festgenommen. Am Abend findet in der Lukaskirche eine Fürbittandacht für die Verhafteten statt. Zu Andachten und Protestaktionen kommt es auch in mehreren anderen DDR-Städten. In Prag kommt es aus Anlass des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung von Jan Pallach zu Massendemonstrationen. Die Polizei geht brutal gegen die Demonstranten vor.

16.1. In Leipzig wird der Redner auf der Demonstration des Vortages verhaftet. Die polnische KP beschließt die Wiederzulassung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność.

17.1. In Wien beginnt die Abschlusstagung des dritten Folgetreffens der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Dabei kommen auch die Verhaftungen von Oppositionellen in der DDR im Zusammenhang mit der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 15. Januar in der DDR zur Sprache.

18.1. In der Ost-Berliner Elisabethgemeinde und an 20 weiteren DDR-Orten finden Fürbitten für die in Leipzig inhaftierten Mitglieder von Basisgruppen teil. Das Ost-Berliner Wochenblatt „Die Kirche“ berichtet über die Forderung zweier Friedensarbeitskreise in Dresden, sozialen Dienst als Ersatz für den Wehrdienst zuzulassen.

19.1. DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker versichert, die Mauer werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht

beseitigt sind“. Die meisten der in Leipzig inhaftierten Mitglieder von Basisgruppen werden freigelassen.

20.1. Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Mieczyslaw Rakowski treffen in Bonn zu einem längeren Gespräch zusammen.

21.1. Mit einem Beitrag aus dem tschechischen KP-Blatt „Rude Pravo“ informiert das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ erstmals über die Demonstrationen von Anhängern der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 Mitte Januar in Prag und – quasi warnend an vergleichbare Kräfte in der DDR – über die Bereitschaft, dagegen mit allen Mitteln vorzugehen.

22.1. In einem offenen Brief kündigen mehrere DDR-Oppositionsgruppen eigene Kandidaten für die DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai an.

23.1. Stasi-Chef Erich Mielke äußert in einem Schreiben an die Leiter der Diensteinheiten die Befürchtung, dass das auch im „Neuen Deutschland“ veröffentlichte Abschlussdokument der Wiener KSZE-Konferenz von oppositionellen Kräften in der DDR als Ermutigung für ihre Aktivitäten angesehen wird und fordert von den eigenen Leuten „höchste Wachsamkeit“. Beim Besuch des schwedischen Ministerpräsidenten Ingvar Carlsson in Ost-Berlin erklärt SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker, die DDR sei bereit, die Nationale Volksarmee um 10.000 Mann zu reduzieren und die Verteidigungsausgaben um zehn Prozent zu senken.

24.1. Der Leiter der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Leipzig, Manfred Hummitzsch, kritisiert in einer Dienstbesprechung das „Handeln am Ereignisort“ anlässlich der Demonstration am 15. Januar als „zu unentschlossen“. Erich Honecker entscheidet das Einstellen der Ermittlungsverfahren gegen die Organisatoren der Demonstration.

25.1. Amnesty International veröffentlicht in London ein Dossier, das der DDR schwere Menschenrechtsverletzungen vorwirft.

26.1. Litauische Republik löst Russisch als Staatssprache ab.

27.1. Die DDR-Medien veröffentlichen den Wahlaufruf der Nationalen Front zu den für den 7. Mai geplanten Kommunalwahlen. Darin heißt es u.a., in der DDR sei seit ihrer Gründung vor 40 Jahren „eine Gesellschaftsordnung mit menschlichem Antlitz“ entstanden. Die kirchlichen Basisgruppen in Leipzig begehen den Zweiten Leipziger Rumänien-Solidaritätstag.

28.1. Vertreter der freien Gewerkschaftsbewegung Solidarność und der polnischen Regierung einigen sich auf Verhandlungen am Runden Tisch.

29.1. In der Dienstwohnung des Ost-Berliner Pfarrers Rainer Eppelmann werden weitere „Wanzen“ der DDR-Staatssicherheit entdeckt, darunter auch im Amtszimmer des Pfarrers. Auf Initiative des Atomphysikers und Dissidenten Andrej Sacharow wird in Moskau die Gesellschaft Memorial gegründet.

30.1. Mitlieder der Leipziger Friedensgemeinde beantragen die Genehmigung eines Schweigemarsches zum Jahrestag der Ermordung der Geschwister Scholl. Nach staatlichem Druck ziehen sie den Antrag wieder zurück.

31.1. Der Schweizer Schriftstellerverband fordert die Freilassung des verhafteten tschechischen Bürgerrechtlers und Schriftstellers Václav Havel.

FEBRUAR 1989

1.2. Ungarn nimmt als erster Ostblockstaat volle diplomatische Beziehungen zu Südkorea auf. Stasi-Chef Mielke erklärt intern, die DDR habe das KSZE-Abschlussdokument nur aus Angst vor politischer Isolation unterschrieben. Darin genannte »Helsinki-Gruppen« würden in der DDR nicht zugelassen.

2.2. Zwischen Umweltaktivisten des Grünen Netzwerks „Arche“ und Vertretern des DDR-Umweltministeriums findet erstmals ein Gespräch über die umstrittene Verbrennungsanlage für Sondermüll in Schöneiche südlich von Berlin statt. Vier Mitglieder des Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden der Bekenntniskirche Berlin-Treptow werden zu Haftstrafen verurteilt.

3.2. SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker und der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm plädieren nach mehrtägigen Gesprächen in Ost-Berlin für „normale Beziehungen“ zwischen dem Bundestag und der DDR-Volkskammer.

4.2. Militärangehörige beider deutschen Staaten treffen sich erstmals außerhalb einer Manöverbeobachtung.

5.2. Der 1981 in die Bundesrepublik übergesiedelte Schriftsteller Erich Loest schlägt „Gedenkmärsche“ für die ehemalige Universitätskirche St. Pauli in Leipzig vor.

6.2. Bei seinem Versuch, von Ost- nach West-Berlin zu flüchten, wird der 20jährige Schlosser Chris Gueffroy von DDR-Grenzsoldaten erschossen. In Warschau beginnen Gespräche zwischen 57 Vertretern von Regierung, Opposition und Kirche am sogenannten Runden Tisch.

7.2. Nach längerer Pause wird in Genf die Abrüstungskonferenz fortgesetzt. Dabei drängt UN-Generalsekretär Perez de Cuellar auf zügige Arbeit an der Konvention zum Verbot aller chemischen Waffen. Der Solidarność-Vorsitzende Lech Walesa sieht zu Beginn der Verhandlungen am polnischen »Runden Tisch« Chancen auf Einigung zwischen Opposition und Regierung.

8.2. Die Berliner „tageszeitung“ (taz) berichtet über neu aufgefundene Abhöranlagen in der Wohnung des Ost-Berliner Pfarrers Rainer Eppelmann.

9.2. Der Stadtrat von Plauen stimmt der Vereinbarung über eine Städtepartnerschaft mit dem niedersächsischen Nordhorn zu Umweltaktivisten protestieren bei einem Treffen mit Vertretern des DDR-Umweltministeriums gegen die Sondermüllverbrennungsanlage Schöneiche.

10.2. Die französische Regierung fordert die tschechoslowakische Regierung offiziell auf, Václav Havel aus der Haft zu entlassen.

11.2. Die Sozialistische Arbeiterpartei in Ungarn beschließt in einer Sondertagung des Zentralkomitees, ihr Machtmonopol aufzugeben und zum Mehrparteiensystem überzugehen.

Auch soll der Stacheldraht an der ungarisch-österreichischen Grenze, der sogenannte der „Eiserne Vorhang“, abgebaut und durch eine normale Grenzsicherung ersetzt werden.

12.2. Im Rahmen des deutschen-deutschen Kulturaustausches werden erstmals 220 Kunstwerke des Güstrower Künstlers Ernst Barlach für eine Ausstellung im Landesmuseum von Schleswig aus Ost und West zusammengetragen. Der ungarische KP-Chef Karoly Grosz sieht im Mehrparteiensystem „eine größere Möglichkeit, weniger Fehler zu machen“.

13.2. Mehr als 5.000 vorwiegend junge Leute nehmen in Dresden an einem „Ökumenischen Nachtgebet“ zum Gedenken an die Bombardierung der Stadt vor 44 Jahren teil. Danach ziehen sie mit brennenden Kerzen zur Ruine der Frauenkirche.

14.2. Drei DDR-Bürger durchbrechen mit einem Lkw die Grenzanlagen in Ost-Berlin. Zweien gelingt danach die Flucht durch die Spree, ein Dritter wird festgenommen.

15.2. Die letzten sowjetischen Truppen, die seit 1979 Afghanistan besetzt halten, ziehen ab. Staats- und Parteichef Nadjibullah hat Afghanistan zur Fortsetzung des Kampfes gegen die Mudjaheddin seit dem 5. Februar unter Kriegsrecht gestellt.

16.2. Eine ausreisewillige Potsdamer Familie durchbricht mit ihrem Pkw die Sperre zum Parkplatz der bundesdeutschen Vertretung in Ost-Berlin.

17.2. Die Polnische Presseagentur (PAP) kündigt die Gründung einer christdemokratischen Partei in der Volksrepublik Polen an.

18.2. Die evangelische Markusgemeinde in Leipzig stellt die Räume ihrer Gemeindebibliothek als „Umweltbibliothek“ zur Verfügung.

19.2. In der estländischen Sowjetrepublik beschließt das Präsidium des Obersten Sowjets die Wiedereinführung des Gedenktages an die am 24. Januar 1918 proklamierte unabhängige Republik Estland. Erstmals spricht das estnische Parteiorgan „Sowjetskaja Estonia“ in diesem Zusammenhang von der „Besetzung Estlands durch sowjetische Truppen 1940“. Bisher war stets vom Gesuch der drei baltischen Staaten um Anschluss an die UdSSR die Rede.

20.2. Die kirchliche Initiativgruppe „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ ruft in einem Offenen Brief zu bewusster Teilnahme an den für den 7. Mai geplanten Kommunalwahlen auf. Das Recht zu wählen sollte wahrgenommen und nicht einer Verpflichtung zum Bekenntnis genüge getan werden, betonen die zehn Unterzeichner des Schreibens.

21.2. Der Schriftsteller und Bürgerrechtler Václav Havel wird in Prag wegen Rowdytums zu neun Monaten Haft verurteilt.

22.2. Die Bundesregierung bestellt den Leiter der DDR-Vertretung in Bonn wegen der neuerlichen Schüsse an der Mauer ein.

23.2. In einem Offenen Brief fordern 21 DDR-Oppositionsgruppen die sofortige Freilassung des tschechischen Schriftstellers und Dissidenten Václav Havel.

24.2. Die Sozialistische Arbeiterpartei in Ungarn verzichtet auf ihren in der Verfassung verankerten Führungsanspruch. Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau trifft zu

Gesprächen über die Elbverschmutzung mit Staats- und Parteichef Erich Honecker zusammen.

25.2. In der georgischen Hauptstadt Tiflis kommt es erstmals zu Demonstrationen gegen den Anschluss Georgiens an die UdSSR vor 68 Jahren.

26.2. Auf dem DDR-weiten Treffen „Frieden konkret“ in Greifswald vereinbaren die 171 Vertreter kirchlicher und unabhängiger Basisgruppen eine engere Vernetzung ihrer Arbeit.

27.2. Die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP) meldet die Verabschiedung eines offenen Briefes an die Regierung der CSSR mit der Forderung der Freilassung der inhaftierten Bürgerrechtler durch die Delegierten der Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen in Greifswald.

28.2. In Halle protestieren 40 Personen mit einem Schweigemarsch gegen die Schüsse an der Berliner Mauer.

MÄRZ 1989

1.3. Nach den Oppositionsgruppen fordert auch das PEN-Zentrum der DDR die Freilassung von Václav Havel. Der stellvertretende Verteidigungsminister der DDR, Generaloberst Fritz Streletz, kündigt im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ die Auflösung von sechs Panzerregimentern an. Die freiwerdenden 600 Panzer sollen in der Volkswirtschaft verwendet oder verschrottet werden.

2.3. Die SED-Führung genehmigt allen Leipziger Ausreisewilligen, die sich oppositionell betätigen, die Ausreise in die Bundesrepublik.

3.3. Die DDR-Volkskammer gewährt den ständig in der DDR lebenden Ausländern das aktive und passive kommunale Wahlrecht. Der als Reformer neu ins Amt gekommene ungarische Ministerpräsident Miklós Németh erhält während seines Antrittsbesuchs bei Michail Gorbatschow die Zusicherung, dass sich die Sowjetunion nicht in die Reformpolitik Ungarns einmischen wird und Ungarn keine neue Invasion wie 1956 fürchten müsse.

4.3. Polen beginnt mit der angekündigten Reduzierung seiner Truppen auf 40.000 Mann bis zum Jahr 1990.

5.3. Der Thüringer Landesbischof Werner Leich, der auch Vorsitzender des DDR-Kirchenbundes ist, spricht sich für den Verzicht auf die Formel „Kirche im Sozialismus“ aus.

6.3. Bonn und Potsdam besiegeln ihre Städtepartnerschaft. In Wien beginnen die NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte.

7.3. In Ost-Berlin versucht der gelernte Chemiker Winfried Freudenberg, die Mauer mit einem selbstgebauten Gasballon zu überwinden. Dabei kommt er am nächsten Morgen beim Absturz über West-Berlin ums Leben.

8.3. Die Sowjetunion erklärt sich gegenüber der UN bereit, künftig in einer Reihe von Streitfällen den Internationalen Gerichtshof anzuerkennen. In einem entsprechenden

Schreiben nennt Außenminister Eduard Schewardnadse die Konventionen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (1948), über die politischen Rechte der Frauen (1952), die Abschaffung aller Formen von Rassendiskriminierung (1965) sowie über das Verbot der Folter (1984).

9.3. Regierung und Opposition in Polen einigen sich auf eine radikale Parlaments- und Wahlrechtsreform.

10.3. In Halle werden vier DDR-Bürger, die in der Bonner Vertretung in Ost-Berlin ihren Wunsch nach Übersiedlung vorgetragen hatten, zu hohen Haftstrafen verurteilt.

11.3. Die Initiative „Frieden und Menschenrechte“ kündigt an, künftig DDR-weit zu agieren. Die Leitung des evangelischen Kirchenbundes in der DDR begrüßt die von der Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten angekündigten Abrüstungsinitiativen.

12.3. In Leipzig wird im Beisein von zahlreichen Politikern aus Ost und West die Frühjahrsmesse eröffnet. Mit einem Fahrradkorso von der Nikolaikirche zum Messegelände demonstrieren 20 Menschen für die Verwirklichung individueller Menschenrechte in der DDR. Die Bundesminister Helmut Haussmann und Oscar Schneider sagen ihren geplanten Besuch der Messe aus Protest gegen die von DDR-Grenzsoldaten zwei Tage zuvor abgegebenen Schüsse auf flüchtende Bürger ab.

13.3. Im Anschluss an das wöchentliche Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche kommt es zu einer Demonstration von rund 600 Ausreisewilligen auf dem Nikolaikirchhof und in der Leipziger Innenstadt. In den folgenden Wochen lässt die DDR täglich etwa 50 Leipziger in die Bundesrepublik ziehen. In einer Kaligrube nahe der innerdeutschen Grenze in Nordthüringen wird durch eine Sprengung ein Erdbeben ausgelöst.

14.3. Für die in der CSSR inhaftierten Bürgerrechtler findet in der katholischen Liebfrauenkirche von Leipzig eine Solidaritätsveranstaltung statt.

15.3. In Ungarn nehmen an dem erstmals seit 40 Jahren wieder begangenen Nationalfeiertag über 100.000 Menschen teil. In einem Offenen Brief beklagen mehrere kirchliche Basisgruppen und Initiativen die neuerlichen Schüsse an der innerdeutschen Grenze.

16.3. Die DDR-Führung lädt Bundesumweltminister Klaus Töpfer wegen der Absagen seiner Kollegen Haussmann und Schneider von der Leipziger Messe aus. Mitglieder des Arbeitskreises Solidarische Kirche (AKSK) Thüringen kündigen an, dass sie die DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 boykottieren werden.

17.3. Eine Bürgerinitiative gegen Giftmüll aus Wismar äußert gegenüber dem Kieler Ministerpräsidenten Björn Engholm die Befürchtung, die ursprünglich für die Kartoffelverschiffung in die Sowjetunion errichteten Kai-Anlagen in ihrer Stadt könnten für den Mülltransport aus Westdeutschland ausgebaut werden. „Unser Land hat genügend Probleme mit seinem eigenen Müll.“

18.3. Der gestürzte Moskauer Parteichef und Politbüro-Kandidat Boris Jelzin kündigt vor 10.000 Zuhörern die Fortsetzung seines Kampfes für radikale Reformen an.

19.3. Die Synode der mecklenburgischen Landeskirche äußert sich zum Abschluss ihrer Frühjahrstagung betroffen über die unvermindert hohe Zahl ausreisewilliger DDR-Bürger.

Landesbischof Christoph Stier forderte zudem mehr Offenheit in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Mehrere Oppositionsgruppen gestalten für den in der CSSR inhaftierten Václav Havel und weitere Charta-77-Mitglieder einen DDR-weiten Solidaritätstag.

20.3. Die Initiative „Frieden und Menschenrechte“ betont in einer Erklärung, dass der Wunsch nach „Glasnost“ und „Perestrojka“ schon bis in die SED hinein spürbar sei. Beim wöchentlichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche entrollen Teilnehmer ein Transparent mit der Forderung nach Freilassung der Inhaftierten in der CSSR.

21.3. Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow unterzeichnet ein Dekret, das die Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte um eine halbe Millionen Mann bis Ende 1990 vorsieht.

22.3. In einer Erklärung rufen die Deutsche Friedensgesellschaft- Vereinigte Kriegsdienstgegner und Vertreter der IG Metall zur massenhaften Kriegsdienstverweigerung auf. Helmut Kohl nennt den Aufruf einen „Skandal“, der IG-Metall-Vorstand distanziert sich von dem Appell.

23.3. Das Christliche Umweltseminar in Rötha südlich von Leipzig verzeichnet rund 12.000 Unterschriften unter die Initiative „Eine Mark für Espenhain“, mit der die umgehende Modernisierung des benachbarten Braunkohleveredelungswerks Espenhain eingefordert wird.

24.3. An den Ostermärschen der westdeutschen Friedensbewegung beteiligen sich nach Angaben der Veranstalter 200.000 Menschen.

25.3. In Riga, der Hauptstadt der lettischen Sowjetrepublik Lettland, gedenken erstmals rund 300.000 Menschen mit einem Schweigemarsch der Opfer der stalinistischen Deportationen vor 40 Jahren.

26.3. Bei den Wahlen zum ersten sowjetischen Volksdeputiertenkongress können sich die Wähler erstmals zwischen mehreren Kandidaten entscheiden. Zahlreiche reform-orientierte Politiker werden gewählt. Dem Bundesnachrichtendienst (BND) liegen der „Welt am Sonntag“ zufolge Informationen vor, wonach die DDR-Führung davon ausgeht, dass bis zu 1,5 Millionen DDR-Bürger in die Bundesrepublik übersiedeln wollen.

27.3. Unter dem Motto »Europa ohne fremde Armeen« findet in Stettin einer der ersten Ostermärsche in Polen statt. Dazu aufgerufen hatte die Gruppe »Freiheit und Frieden«.

28.3. In Ost-Berlin wird der Bundesbürger Gerald Knoch wegen Fluchthilfe-Aktivitäten zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt. In Hamburg kommen ranghohe Offiziere von Bundeswehr und NVA zu einem zweitägigen Meinungsaustausch zusammen.

29.3. Mehr als 100 Mitglieder kirchlicher Basisgruppen in der DDR protestieren in einer gemeinsamen Erklärung gegen die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen im Iran. Gefordert werden zudem Wirtschaftssanktionen und der Verzicht auf Staatsbesuche, um das Regime in Teheran nicht aufzuwerten.

30.3. Die DDR-Führung kündigt eine begrenzte Lockerung der Bestimmung für Reisen in den Westen an. Im März gelingt 5.671 DDR-Bürgern die Flucht in den Westen; weitere 4.487 Menschen dürfen die DDR mit Genehmigung verlassen.

31.3. Am DDR-Grenzkontrollpunkt Drewitz durchbrechen drei Männer mit ihrem Pkw die erste Kontrollstelle, fahren gegen eine Sperre und werden verhaftet. Der evangelische Pfarrer Walter-Christian Steinbach aus Rötha bei Leipzig beklagt in der Ost-Berliner Wochenzeitung „Die Kirche“ die Geheimhaltungspflicht für Umweltdaten als „ernstes Hindernis“ bei der Zusammenarbeit kirchlicher Umweltgruppen mit staatlichen Behörden.

APRIL 1989

1.4. Eine neue Reiseverordnung ermöglicht Ehepartnern Besuchsreisen zu angeheirateten Verwandten im Westen. Hamburg und Kiel werden in den kleinen Grenzverkehr einbezogen. Als Reaktion auf das DDR-Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ schränkt die Sowjetunion den Bezug von DDR-Presseerzeugnissen stark ein. Dies betrifft u. a. das „Neue Deutschland“ (um 50 Prozent, die „Tribüne“, die „Berliner Zeitung“ (um 95 Prozent, die „BZ am Abend“, die „Für Dich“ und die „Junge Welt“. Bei weiteren Titeln wurde die Lieferung vollständig eingestellt.

2.4. Vor der in Ost-Berlin tagenden Synode der Berlin-brandenburgischen Kirche äußern zahlreiche Redner massive Kritik an der neuen Reiseverordnung. Sie mahnen zudem eine wirksame Reformpolitik wie in anderen Ostblockstaaten an.

3.4. Aufgrund internationaler Proteste gegen die Erschießung von Chris Gueffroy an der Berliner Mauer im Februar 1989 wird der Schießbefehl durch einen internen Befehl des Chefs des Hauptstabes und stellvertretenden Ministers, Fritz Strehlitz, ausgesetzt.

4.4. Die Synode der Berlin-brandenburgischen Kirche fordert auf ihrer Frühjahrstagung in Berlin, Abhöraktionen in der DDR generell unter Strafe zu stellen. Außerdem spricht sich die Synode dafür aus, ausgereisten DDR-Bürgern die Rückkehr zu ermöglichen. Der Ost-Berliner Stadtjugendpfarrer Wolfram Hülsemann beklagt vor der Synode, dass die DDR-Behörden auf jugendliche Gewalttäter „völlig hilflos“ reagierten. In Dresden äußert die sächsische Landessynode massive Kritik an den bevorstehenden DDR-Kommunalwahlen.

5.4. In Polen unterzeichnen Regierung und Opposition einen „Gesellschaftsvertrag“ über gesellschaftspolitische Reformen.

6.4. In Bonn tagt die deutsch-sowjetische Wirtschaftskommission.

7.4. In Warschau billigt das polnische Parlament die zwei Tage zuvor erzielten Ergebnisse der Verhandlungen am Runden Tisch und macht damit den Weg für grundlegende Reformen und die Zulassung der Gewerkschaft Solidarność frei. In einem Gespräch mit dem Leiter der Spionageabteilung des sowjetischen KGB (Komitee für Staatssicherheit), Generalmajor Leonid Schebarschin, äußert Stasi-Chef Erich Mielke seine Befürchtungen und Ängste über die sowjetische Reformpolitik und die Veränderungen in Polen und Ungarn. „Wir sind besorgt über ungenügende Entschlossenheit zur Abwehr der Angriffe der Feinde“, betont er. Schebarschin hört sich alle Vorwürfe schweigend an und macht Mielke keinerlei Hoffnung, dass sich der Kurs der sowjetischen Reformer ändern werde.

8.4. Am Berliner Grenzübergang Chausseestraße beendet der letzte bekanntgewordene Schusswaffengebrauch an der Berliner Mauer den Fluchtversuch von zwei Jugendlichen.

9.4. Inspektoren aus der Bundesrepublik Deutschland nehmen als offizielle Beobachter an der NVA-Truppenübung »Zyklus 89« teil

10.4. Nach Kontroversen mit der Kirchgemeinde dürfen Leipzigs Basisgruppen das wöchentliche Friedensgebet in der Nikolaikirche erstmals seit August 1988 wieder gestalten. Der Arbeitskreis Gerechtigkeit macht den Anfang vor etwa 900 Besuchern.

11.4. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel trifft in Moskau zu Gesprächen über Abrüstungsfragen mit Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow zusammen.

12.4. In Ungarn wird das Politbüro der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei aufgelöst und verstärkt mit Reformern neu gebildet. Die Lutheraner in Lettland wählen den Rigaer Pfarrer Karlis Gailitis zu ihrem neuen Erzbischof. Er gehört der Gruppe „Wiedergeburt und Erneuerung“ an, die kompromisslos für eine Politik der Umgestaltung (Perestroika) eintritt.

13.4. Der neue Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, betont in einer Regierungserklärung: „Wir sind gegen die Mauer, die durch unsere Stadt geht, und (…) in unseren Köpfen.“

14.4. Zum Abschluss viertägiger Beratungen der östlichen Internationalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Moskau erfahren die DDR-Vertreter, dass sowohl die Sowjetunion als auch die CSSR informelle Kontakt- und Sondierungsgespräche über einen Beitritt zum Internationalen Währungsfond (IWF) führen.

15.4. Im Zuge der Gespräche zwischen SPD und SED über Menschenrechte kommt auch der Schießbefehl an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze zur Sprache. Der Görlitzer evangelische Bischof Joachim Rogge appelliert in einem Vortrag vor den Synodalen seiner Landeskirche an die SED-Führung, sich dem Gespräch über Ursachen für die zahlreichen Ausbürgerungsanträge zu stellen. Der Tod des als liberaler Reformer geltenden früheren chinesischen Parteichefs Hu Yaobang (1980- 1987) löst in China die größte Demonstrationswelle seit mehr als zehn Jahren aus.

16.4. 48 DDR-Oppositionelle kündigen öffentlich den Boykott der bevorstehenden Kommunalwahlen an. In der Dresdner Kreuzkirche zeigen sich knapp 4.000 Teilnehmer eines Gottesdienstes besorgt über die geplante Errichtung eines neuen Chemiewerkes zur Herstellung von Reinstsilizium im Stadtteil Gittersee.

17.4. Die polnische Gewerkschaft „Solidarność“ wird nach jahrelanger Untergrundarbeit wieder legalisiert. Die Görlitzer Synode äußert sich besorgt über die drohende Zerstörung eines Naturschutzgebietes durch den Braunkohletagebau. Am Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche nehmen 900 Besucher teil.

18.4. Die Leipziger SED-Führung berät über den Einsatz von Kampftruppen gegen oppositionelle Demonstrationen. Westliche Medienvertreter dürfen erstmals als Beobachter an Manövern der Warschauer-Pakt-Truppen teilnehmen. Mitarbeiter des Arbeitskreises Gerechtigkeit Leipzig und der Umweltgruppe Borna geben eine fünfseitige Information über ein Atomkraftwerk in der Dahlener Heide heraus.

19.4. Nach Wiederzulassung der polnischen Gewerkschaft „Solidarność“ sprechen sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dafür aus, den Reformprozess in Polen wirtschaftlich und finanziell zu unterstützen.

20.4. In der UdSSR findet der zweite Wahlgang zum Kongress der Volksdeputierten statt. Zu den Kandidaten gehört u.a. Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow.

21.4. In Peking kommt es aus Anlass der Trauerfeiern für den abgesetzten, reformorientierten Führer der Kommunistischen Partei Chinas, Hu Yaobang, zu Massendemonstrationen für mehr Demokratie und Freiheit.

22.4. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen) in Peking fordern Studenten die Freiheit, die Staats- und Parteiführung zu kritisieren, und das Recht, unabhängige Interessenvertretungen zu bilden.

23.4. Das Bürgerkomitee der polnischen Gewerkschaft Solidarność veröffentlicht seine Kandidatenliste für die Parlamentswahlen.

24.4. Der Ost-Berliner Regisseur Konrad Weiß äußert in der evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“ massive Kritik an den bestehenden Reisebeschränkungen für DDR-Bürger. Pfarrer Christian Führer verliest beim wöchentlichen Friedensgebet in Leipzig vor 700 Besuchern den Beschluss der Synode der Landeskirche Sachsen zur bevorstehenden Kommunalwahl. Darin fordert die Synode dazu auf, bei der Wahl die Kabine zu benutzen oder der Wahl fernzubleiben.

25.4. Das Zentralkomitee der KPDSU wird verjüngt. Zu den 74 ZK-Mitgliedern, die aus Altersgründen ausscheiden, gehört auch der frühere Staatschef Andrej A. Gromyko. Parteichef Michael Gorbatschow begründet dies mit den Erfordernissen der sogenannten Perestroika (Umgestaltung).

26.4. In Dresden beginnt das fünftägige Abschlusstreffen der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung mit 150 Vertretern von 19 christlichen Kirchen in der DDR. DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler weist Forderungen nach Einführungen eines zivilen Wehrersatzdienstes zurück. In Stendal werden mehrere Anti-Atomkraft-Aktivisten wegen der Verteilung von Flugblättern festgenommen, darunter Erika Drees, eine Delegierte der Ökumenischen Versammlung. Ihnen droht ein Verfahren wegen »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit«.

27.4. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht besucht die DDR und trifft mit DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker zusammen. In Dresden tauchen Flugblätter auf, die die bevorstehende Kommunalwahl als Farce verurteilen.

28.4. Der staatliche Rundfunk in Polen sendet erstmals eine Wahlsendung der Gewerkschaft „Solidarność“. Auf einer „zentralen Dienstbesprechung“ des Stasi-Ministeriums gibt Minister Erich Mielke die Aufhebung des Schießbefehls bekannt. Im Rahmen der seit längerem in Delitzsch bestehenden „Gespräche um Acht“ im Jugendclub Nord wird erstmals eine Flugblatt-Zeitung mit Texten zur Demokratie herausgebracht.

29.4. Die West-Berliner „Tageszeitung“ (taz) berichtet über zahlreiche Eil-Ausbürgerungen von Ausreisewilligen im Vorfeld der DDR-Kommunalwahlen.

30.4. Zum Abschluss der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung regen die christlichen Kirchen in der DDR einen breiten Dialog über politische und gesellschaftliche Reformen im Land an. In der Dresdner Kreuzkirche

verabschieden sie zwölf Texte, die u.a. mehr Gerechtigkeit und die Umgestaltung des Sozialismus in der DDR gefordert werden. Der sächsische Landesbischof Johannes Hempel beklagt gegenüber dem DDR-Staatssekretär für Kirchenfragen, Kurt Löffler, dass sich zahlreiche Bürger vom Staat distanzierten.

MAI 1989

1.5. An der offiziellen Maidemonstration in Leipzig beteiligen sich Mitstreiter der Initiativgruppe Leben mit dem Plakat „Wahrheit ist kein Monopol – offen sein für Alternativen“. Sie bleiben 40 Minuten lang unbehelligt und werden danach zeitweilig festgenommen. Auch in anderen DDR-Orten kommt es zu Festnahmen von Demonstranten. In Leipzig demonstrieren rund 280 Antragsteller für ihre Ausreise. Der Zug wird von der Polizei gewaltsam aufgelöst.

2.5. Ungarn kündigt den Abbau seiner Grenzanlagen zu Österreich an.

3.5. Mit Generalinspekteur Dieter Wellershoff trifft erstmals der höchste militärische Vertreter der Bundeswehr zu politischen und militärischen Gesprächen in Moskau ein. Der deutschstämmige Prosaautor Roland Kirsch wird im rumänischen Temeswar nach einem Securitate-Verhör tot in seiner Wohnung aufgefunden.

4.5. In Leipzig ruft eine Initiative, die zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft beitragen will, mit einem Flugblatt Nichtwähler dazu auf, sich am Wahlsonntag (7. Mai) auf dem Markt zu versammeln. Im Aufnahmelager Gießen kommen an diesem Tag 345 DDR-Übersiedler an. Die Aufnahmekapazitäten sind erschöpft. Davor lagen die Zugangszahlen bei 50 bis 80 Personen pro Tag.

5.5. Der polnische Staats-und Parteichef Wojciech Jaruzelski kündigt die Aufhebung aller seit 1980 gefällten Urteile gegen Oppositionelle an.

6.5. Auf einer Sitzung in Görlitz stimmt die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen einer Erklärung zu, in der u.a. betont wird, dass sich im Atomzeitalter kein Krieg mehr als Mittel der Politik rechtfertigen lasse.

7.5. Bei den Kommunalwahlen in der DDR entfallen nach offiziellen Angaben 98,85% der Stimmen auf die Kandidaten der Einheitslisten. Von Oppositionellen werden zum ersten Mal bei der Stimmenauszählung flächendeckend Kontrollen vorgenommen, bei denen sie erhebliche Wahlfälschungen feststellen und diese publik machen. Bei Schließung der Wahllokale versammeln sich 1.500 Demonstranten auf dem Leipziger Markt. Die Polizei schreitet gegen einen Demonstrationszug ein. 120 Personen werden festgenommen.

8.5. In der Leipziger Innenstadt werden bei einem friedlichen Protestzug von 550 Personen im Anschluss an das wöchentliche Friedensgebet in der Nikolaikirche elf Personen festgenommen und erst nach Stunden wieder freigelassen. Das ZK der ungarischen KP enthebt den früheren Parteichef Janos Kadar aller Ämter.

9.5. Der mit Berufsverbot belegte Rechtsanwalt Rolf Henrich beklagt auf einer Veranstaltung der „Kirche von unten“ in Ost-Berlin Machtmissbrauch und fehlende Rechtssicherheit in der DDR. In Leipzig erstattet ein Pfarrer Anzeige wegen Körperverletzung aufgrund des

Polizeieinsatzes nach dem Friedensgebet am Vortage. Der SED-Chefideologe Kurt Hager betont, dass Reformen nach sowjetischem Vorbild für die DDR nicht in Frage kommen.

10.5. Vertreter mehrerer kirchlicher Basisgruppen erheben in Eingaben an den DDR-Staatsrat und andere SED-Behörden Einspruch gegen das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 7. Mai. Fortan wird in Ost-Berlin und anderen Städten an jeden 7. des Monats öffentlich gegen Wahlfälschung demonstriert.

11.5. Das evangelische Jugendpfarramt in Leipzig berichtet über wachsende Besorgnis in der Bevölkerung über ein Atomkraftwerk, das 34 Kilometer östlich der Stadt entstehen soll.

12.5. In West-Berlin wird am 41. Jahrestag an das Ende der von Juni 1948 bis Mai 1949 währenden Berlin-Blockade gedacht.

13.5. In Peking treten Tausende Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens für Freiheit und Demokratie in einen Hungerstreik.

14.5. Die Leipziger Alternativ-Band „Die Art“ darf beim Pfingsttreffen der FDJ vor 10.000 Zuhörern auftreten.

15.5. Nach 30 Jahren findet zum ersten Mal wieder ein Gipfeltreffen zwischen der Sowjetunion und China statt. Der Besuch des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow in Peking wird von Studentendemonstrationen begleitet, die die Übernahme der Perestroika durch China fordern.

16.5. SED-Planungschef Gerhard Schürer warnt seine Partei vor steigender Westverschuldung, weil dies spätestens 1991 zur Zahlungsunfähigkeit führe. Die Ost-Berliner evangelische Wochenzeitung „Die Kirche“ beklagt erneut Fremdenfeindlichkeit in der DDR. Jüngstes Beispiel seien „Ausländer raus“-Rufe junger Leute in der S-Bahn, ohne dass ihnen Einhalt geboten worden sei.

17.5. Bei der Ökumenischen Versammlung zum Thema „Frieden in Gerechtigkeit“ in der Schweizer Grenzstadt Basel beklagen mehrere Kirchenvertreter aus den Ländern des Ostblocks das Verhalten der Westeuropäer, die sich wie die „Herren des europäischen Hauses“ aufführten. Václav Havel wird nach Verbüßung der Hälfte seiner Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen.

18.5. Der Sprecher der polnischen Gewerkschaft „Solidarność“, Kazimir Wojcicki, beklagt bei einem kirchlichen Treffen in Basel das demokratische Bewusstsein in der DDR als „sehr unterentwickelt“. Die DDR sei darum für die Politik der Perestrojka ein „Störfaktor“. Der Nikolai-Kirchenvorstand in Leipzig lehnt in einer Sondersitzung mit dem sächsischen Landesbischof Johannes Hempel dessen Versuch ab, die Friedensgebete zu verändern. Sie werden lediglich in „Montagsgebete“ umbenannt. Der Oberste Sowjet in Litauen erklärt das Land für unabhängig.

19.5. In China wird über acht Pekinger Bezirke das Kriegsrecht verhängt. DDR-Bürger fechten die Gültigkeit der Kommunalwahlen an. Staatssicherheitsminister Erich Mielke weist in einem geheimen Befehl die Leiter seiner Diensteinheiten an, „Maßnahmen zur Zurückweisung und Unterbindung von Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989“ vorzunehmen.

20.5. Der Erfurter Propst Heino Falcke nennt die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Ost und West die derzeit größte Gefahr für den Frieden in Europa. In Leipzig befassen sich Vertreter von Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen mit aktuellen Vorhaben. Als Beispiele werden der zweite Pleiße-Pilgerweg und ein Straßenmusikfestival, Proteste gegen Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt sowie der Bau eines Atomkraftwerks bei Leipzig bzw. eines Reinstsiliziumwerks in Dresden.

21.5. Auf einer internationalen Tagung in West-Berlin fordert der ehemalige Regierungssprecher Klaus Bölling die Streichung des Wiedervereinigungsgebots aus der Präambel des Grundgesetzes.

22.5. In Leipzig riegelt die Polizei während des wöchentlichen Friedensgebetes die Straßen rund um die Nikolaikirche ab. Bei dem anschließenden Versuch von 350 Demonstrierenden, den Kirchplatz zu verlassen, kommt es zu zahlreichen Festnahmen.

23.5. Bundespräsident Richard von Weizsäcker wird mit 86,3% der Stimmen von der Bundesversammlung in seinem Amt bestätigt. Die Warschauer-Pakt-Staaten fordern eine Auflösung der Militärbündnisse.

24.5. Eine sowjetische Historikerkommission räumt im polnischen KP-Organ »Trybuna Ludu« erstmals die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt von 1939 über die Aufteilung Polens und des Baltikums ein.

25.5. In der UdSSR wird Parteichef Gorbatschow vom neugeschaffenen Kongress der Volksdeputierten zum Staatspräsidenten mit besonderen Vollmachten gewählt. Zu einem Gespräch über friedens- und kirchenpolitische Fragen trifft in Ost-Berlin der SPD-Parteivorsitzende und Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, Hans-Jochen Vogel, mit der Leitung des evangelischen Kirchenbundes in der DDR zusammen.

26.5. Ein 31-jähriger Mann flieht mit einem Ultraleichtflugzeug nach West-Berlin. Mit dem Motordrachen holen zwei Männer ihren Bruder aus Ost-Berlin und landen vor dem Reichstagsgebäude.

27.5. Der als radikaler Reformer geltende Boris Jelzin fällt bei der Wahl des Obersten Sowjets überraschend durch.

28.5. In West-Berlin beginnt eine deutsch-deutsche Lesereihe mit Schriftstellern aus beiden deutschen Staaten.

29.5. Nach dem wöchentlichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche bildet die Polizei erneut einen Kessel und nimmt nach teils gewaltsamen Vorgehen mehrere Beteiligte fest. Der sächsische Landesbischof interveniert gegen das Vorgehen der staatlichen Organe. Ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO in Brüssel verabschiedet ein „Gesamtkonzept für Rüstungskontrolle und Abrüstung“.

30.5. Die Berliner Philharmoniker geben erstmals seit dem Mauerbau 1961 in Ost-Berlin ein Konzert.

31.5. Der US-amerikanische Präsident George Bush beendet seinen zweitägigen Staatsbesuch in der Bundesrepublik. In Mainz erklärt er unter Verweis auf den Grenzabbau in Ungarn: »Let Berlin be next!«

JUNI 1989

1.6. Die DDR-Staatssicherheit informiert die Partei- und Staatsführung über oppositionelle Zusammenschlüsse in den evangelischen Kirchen wie den „Arbeitskreis Solidarische Kirche“, die „Kirche von Unten“ (die den Anstoß zur Kontrolle der Kommunalwahlen gegeben hatte) und die „Initiative Frieden und Menschenrechte“. Diese DDR-weit tätigen Gruppen kritisieren die kirchlichen Strukturen und das angepasste Verhalten der Kirchenleitungen gegenüber dem Staat ebenso wie die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und treten für eine Öffnung und notwendige Veränderung innerhalb der DDR-Gesellschaft ein. Eine ungarische Gesetzesinitiative sieht eine Teilprivatisierung von Grund und Boden in der Volksrepublik vor.

2.6. Das DDR-Außenministerium behauptet in einer Erklärung, die Wahlen vom 7. Mai seien korrekt verlaufen. Rund 200 Ärzte und andere Mitarbeiter des Gesundheitswesens in der DDR äußern sich besorgt darüber, dass es bislang nur unzureichende Konzepte für den Umgang mit radioaktiver Niedrigstrahlung gibt.

3.6. In einer in Ost-Berlin verabschiedeten Erklärung appelliert die Leitung des evangelischen Kirchenbundes an die SED-Führung, die bei den Kommunalwahlen registrierten Unstimmigkeiten korrekt und schnell aufzuklären. Zu den Protesten heißt es in der Erklärung: „Wir verstehen die Empörung, die manche ergriffen hat.“

4.6. In Peking richtet das chinesische Militär ein Blutbad unter Studenten an, die seit Wochen auf dem Platz des Himmlischen Friedens für mehr Demokratie demonstrieren. Die Angaben über die Zahl der Toten schwanken zwischen 2.500 und 7.000 Menschen. Dem Massaker schließt sich eine breite Verfolgungswelle an. Zu den polnischen Parlamentswahlen sind erstmals Oppositionsparteien zugelassen. Die Gewerkschaft „Solidarność“ erhält 92 der 100 Senatssitze. In Ost-Berlin begehen kirchliche Basisgruppen den jährlichen Umweltsonntag. Bei Leipzig beteiligen sich nach einem Umweltgottesdienst 900 zumeist junge Menschen trotz staatlichen Verbots am zweiten Pleißegedenk-Umzug. Zahlreiche Teilnehmer werden zeitweilig festgenommen und sollen hohe Ordnungsstrafen zahlen.

5.6. An dem wöchentlichen Friedensgebet mit rund 1.250 Besuchern in der Leipziger Nikolaikirche nimmt auch der sächsische Landesbischof Johannes Hempel teil. Die Sicherheitskräfte halten sich zurück.

6.6. Bei dem Versuch, Protestbriefe gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking an die chinesische Botschaft in Ost-Berlin zu übergeben, werden über 20 Personen festgenommen.

7.6. Begleitet von einem großen Sicherheitsaufgebot demonstrieren rund 300 Mitglieder kirchlicher und unabhängiger Basisgruppen gegen die Fälschung der Kommunalwahlen vom 7. Mai. Im Westteil Berlins beginnt ein fünftägiges Kirchentagstreffen, an dem erstmals seit dem Mauerbau 1961 auch eine größere Zahl von DDR-Besuchern mit offizieller Reisegenehmigung teilnimmt.

8.6. In einer Stellungnahme bezeichnet die DDR-Volkskammer das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking als „Niederschlagung einer Konterrevolution“ und zeigt Verständnis für den Einsatz des Militärs. In der Ost-Berliner Gethsemanekirche beklagen die rund 1.500 Teilnehmer eines Gottesdienstes das Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte gegen eine Demonstration am Vortag gegen den Wahlbetrug als „massiv, brutal und unangemessen“. An mehreren Orten in den Kreisen Wurzen und Oschatz werden Protestplakate gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks in Börln entdeckt.

9.6. Ungarns Botschafter in der Schweiz, Janosch Haidn, äußert sich auf dem Kirchentag in West-Berlin besorgt darüber, dass im Bewusstsein der Bevölkerung und dem Handeln der Politiker die europäische Einigung auf Westeuropa beschränkt bleibt.

10.6. Mit einer brutalen Polizeiaktion wird in Leipzig ein Straßenmusikfestival beendet. Dabei werden 114 Beteiligte vorübergehend festgenommen. Ein Teilnehmer wird per Strafverfügung ohne Gerichtsurteil nach §214 StGB der DDR zu sechs Wochen Freiheitsentzug verurteilt.

11.6. Staats- und Parteichef Erich Honecker nimmt in Greifswald am Gottesdienst zur Wiedereinweihung des evangelischen Doms teil. Zu einem anschließenden Empfang im Greifswalder Rathaus wird lediglich Bischof Horst Gienke, nicht aber Bischof Gottfried Forck (Ost-Berlin) zugelassen, obwohl dieser als Vertreter des DDR-Kirchenbundes nach Greifswald gekommen war. In Börln beklagen rund 700 Teilnehmer eines Umweltgottesdienstes die Pläne für ein Atomkraftwerk in der Dahlener Heide. Auch der Friedens- und Umweltkreis Wurzen protestiert mit der Aktion „Mobil ohne Auto“ gegen den geplanten AKW-Bau.

12.6. Nach dem wöchentlichen Friedensgebet in Leipzig mit tausend Besuchern kommt es zu einer Demonstration von rund 200 Teilnehmern, die durch Sicherheitskräfte aufgelöst wird.

13.6. In Ungarn nehmen Vertreter der Regierung und der Opposition „Gespräche am Runden Tisch“ über die Abhaltung von freien Wahlen auf.

14.6. Während des Besuchs von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschows in der Bundesrepublik werden elf Verträge über die Verbesserung der Beziehungen und der Zusammenarbeit beider Staaten unterzeichnet.

15.6. Zum Abschluss seines viertägigen Staatsbesuchs in Bonn erklärt der sowjetische Staats- und Parteichef: „Die Mauer kann wieder verschwinden, wenn die Voraussetzungen entfallen, die sie hervorgebracht haben.“ Der von Mitgliedern der Initiative Frieden und Menschenrechte herausgegebene „Grenzfall“ dokumentiert einen offenen Brief, der eine öffentliche Aufarbeitung des Stalinismus in der DDR fordert. Der Brief trägt 57 Unterschriften.

16.6. Vor der in Halle tagenden Synode der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen äußert sich Bischof Christoph Demke entsetzt über das chinesische Vorgehen gegen die friedlichen Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Mit der Umbettung der Überreste des 1958 erschossenen Ministerpräsidenten Imre Nagy wird die gescheiterte ungarische Revolution von 1956 offiziell rehabilitiert.

17.6. Am Tag der Deutschen Einheit verweist der SPD-Politiker Erhard Eppler in einer Feierstunde des Deutschen Bundestages auf die »Existenzangst«, die sich »in der Führung der DDR« breitmache und darüber, »was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang schneller als erwartet durchrostet.«

18.6. In einem aus Dresden stammenden „Offenen Brief“ verurteilen die 146 Unterzeichner den Wahlbetrug bei den DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai und fordern dazu auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. In der Leipziger Markuskirche findet eine Informationsandacht zur chinesischen Demokratiebewegung und deren Niederschlagung statt. Die Teilnehmer eines Seminars in der Kirchgemeinde Berlin-Friedrichsfelde äußern „Entsetzen und Trauer“ über das Blutbad in Peking.

19.6. Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper vereinbart mit DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker in Ost-Berlin Reiseerleichterungen für West-Berliner. An das wöchentliche Friedensgebet in Leipzig mit über 1.000 Teilnehmern schließt sich ein Schweigemarsch an, der von Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst wird.

20.6. Der Ost-Berliner Bischof Gottfried Forck übergibt im DDR-Staatsrat ein Protestschreiben mit 967 Unterschriften gegen die Fälschung der Wahlen Anfang Mai. In der Sowjetrepublik Kasachstan kommt es zu blutigen Unruhen.

21.6. In einer Erklärung rufen 25 DDR-Oppositionsgruppen zur Solidarität mit der Demokratiebewegung in China auf. Die Akzeptanz des chinesischen Massakers durch die SED-Führung sei Ausdruck genereller Ablehnung von Demokratisierungsbestrebungen.

22.6. DDR-Sicherheitskräfte unterbinden in Ost-Berlin die Absicht von rund 50 jungen Leuten, ein Protestschreiben in der chinesischen Botschaft abzugeben. Über 30 von ihnen werden festgenommen. Auch aus anderen DDR-Orten werden Schreiben bekannt, die die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China verurteilen.

23.6. Das zum DDR-Kirchenbund gehörende Ökumenisch-Missionarische Zentrum in Ost-Berlin ruft zur Fürbitte für die Opfer des brutalen Vorgehens gegen friedliche Demonstranten in China auf. In der Ost-Berliner Elisabethgemeinde fordern Mitglieder der „Kirche von unten“ ein sofortiges Ende der Hinrichtungen und Verurteilungen von Teilnehmern an den friedlichen Demonstrationen in Peking.

24.6. In der „Leipziger Volkszeitung“ erscheint ein Hetzartikel gegen Besucher der Friedensgebete. Der Ost-Berliner Bischof Gottfried Forck verurteilt bei einer kirchlichen Veranstaltung in Perleberg das staatliche Vorgehen gegen junge Leute, die mit Erklärungen und Protesten bei der chinesischen Botschaft in der DDR auf die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung in China reagieren wollen.

25.6. In der Ost-Berliner Erlöserkirche beginnen Mitglieder der evangelischen Jugend mit einem 72-stündigen Fastentrommeln gegen die gewaltsame Unterdrückung der Demokratiebewegung in China.

26.6. Beim wöchentlichen Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche protestiert Pfarrer Christian Führer gegen die Todesurteile in China und gegen den Artikel der „Leipziger Volkszeitung“. Danach kommt es erneut zu einem Polizeikessel. Sven Kulow wird verhaftet, zusammengeschlagen und bis zur Amnestie im Oktober inhaftiert.

27.6. In einem symbolischen Akt zerschneiden der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock bei Sopron den Stacheldrahtzaun an der gemeinsamen Grenze. Beseitigt werden nur die Grenzsperren, die Grenzkontrollen bleiben. In der DDR löst dies dennoch einen verstärkten Urlauber- und Flüchtlingsstrom nach Ungarn aus.

28.6. In der Ost-Berliner Samariterkirche nehmen rund 1.500 zumeist junge Leute an einem „Klage-Gottesdienst“ gegen die gewaltsame Beendigung der Demokratiebewegung in China teil.

29.6. Die tschechische KP-Zeitung „Rude Bravo“ droht Bürgerrechtlern mit dem biblischen Vers „Wer Wind säht, wird Sturm ernten“.

30.6. Nach dem Wahldesaster sprechen sich ZK-Mitglieder der polnischen KP gegen die Kandidatur von Wojciech Jaruzelski für das neu geschaffene Amt des Staatspräsidenten aus.

JULI 1989

1.7. DDR-Bürger dürfen ab sofort staatliche Entscheidungen zu Reiseangelegenheiten gerichtlich überprüfen lassen. Nach offiziellen Angaben haben im ersten Halbjahr 1989 rund 39.000 Menschen die DDR mit staatlicher Genehmigung und über 5.000 ohne Genehmigung Richtung Bundesrepublik verlassen. Die Leitung des evangelischen Kirchenbundes in der DDR äußert sich bestürzt über das blutige Vorgehen der chinesischen Führung gegen die Demokratiebewegung im Lande.

2.7. In der Thüringer evangelischen Wochenzeitung „Glaube und Heimat“ wird die Umweltgefährdung durch industrielle Schweinemast kritisiert.

3.7. In der Leipziger Nikolaikirche findet das letzte Friedensgebet vor der Sommerpause statt. Danach kommt es erneut zu polizeilichen Übergriffen auf Teilnehmer der wöchentlichen Andacht.

4.7. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters trifft bei seinem Antrittsbesuch in Ost-Berlin mit Staats- und Parteichef Erich Honecker sowie Außenminister Oskar Fischer zusammen.

5.7. West-Berlin meldet für das erste Halbjahr 1989 15.000 Übersiedler vor allem aus der DDR und aus Polen. DDR-Umweltminister Hans Reichelt wird zu Gesprächen in Bonn empfangen.

6.7. Zwischen der Bundesregierung und der DDR-Regierung wird eine Umweltvereinbarung zur Säuberung der Elbe und zur Verringerung der Luftverschmutzung in der DDR geschlossen. In Leipzig beginnt unter dem Motto „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst.“ ein viertägiger Kirchentag der sächsischen Landeskirche, der soziale und politische Konflikte sowie die Forderung nach gesellschaftspolitischen Reformen in der DDR zur Sprache bringt. Parallel dazu gibt es in der Lukaskirche einen „Statt-Kirchentag“, zu dem kirchliche Basisgruppen aus Protest gegen den Ausschluss kritischer Gruppen eingeladen haben.

7.7. Der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow gesteht auf der ersten Ostblock-Gipfelkonferenz seit 1968 in Bukarest jedem sozialistischen Staat seine eigene Entwicklung zu. Damit verliert die sogenannte Breschnew-Doktrin über die eingeschränkte Souveränität der Ostblockstaaten vom November 1968 ihre Gültigkeit. Eine Demonstration von Berliner Bürgerrechtlern gegen die Wahlfälschung wird von einem massiven Polizeiaufgebot

aufgelöst. Die innenpolitischen Spannungen und das Anwachsen der Unzufriedenheit prägen den evangelischen Kirchentag in Leipzig. Der sächsische Landeshistoriker Karlheinz Blaschke erklärt: „Das Verbleiben in der DDR ist eine nationale Aufgabe, denn auch hier ist ein Stück Deutschland.“

8.7. Auf der Jahrestagung des Warschauer Paktes kommt es zu heftigen Kontroversen zwischen Reformbefürwortern (Sowjetunion, Ungarn, Polen) und Reformgegnern (DDR, CSSR, Rumänien).

9.7. Bei der Abschlussversammlung des Leipziger Kirchentages, an der rund 50.000 Menschen auf der Pferderennbahn der Messestadt teilnehmen, demonstrieren Vertreter kirchlicher Basisgruppen gegen Wahlbetrug in der DDR und gegen die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in China. Danach ziehen rund 1.000 Menschen mit der Forderung nach mehr Demokratie und mehr Offenheit in der DDR zur zwei Kilometer entfernten Peterskirche. Nach einer Fürbittandacht in der Dresdner Kreuzkirche für die Opfer des Massakers in China werden mehrere Dutzend Teilnehmer vorläufig festgenommen, verhört und mit hohen Geldstrafen belegt.

10.7. Im sibirischen Kohlerevier Kusbass beginnt eine Streikwelle, die am 17. Juli auch auf das ukrainische Donbass- Revier übergreift. Die Arbeiter fordern wirtschaftliche Reformen und soziale Verbesserungen. Nach Appellen und Zusagen von Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow klingen die Streiks am 25. Juli aus.

11.07. Der Besuch von US-Präsident George Bush in Ungarn weckt Hoffnung auf wirtschaftliche Hilfe und »ideelle Aufwertung«.

12.7. In Prag kommt Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit Václav Havel zusammen.

13.7. Der RIAS berichtet über die ungewisse Zukunft der DDR-Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest.

14.7. Die Französische Republik erinnert mit zahlreichen Veranstaltungen in Paris an die Französische Revolution vor 200 Jahren.

15.7. Der Ost-Berliner Schriftsteller Stefan Heym mahnt bei einer Veranstaltung in der überfüllten Dorfkirche von Berlin-Bohnsdorf mehr Demokratie in der DDR an.

16.7. Laut Zeitungsberichten halten sich etwa 30 DDR-Bürger in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest auf um ihre Ausreise nach Westdeutschland zu erzwingen.

17.7. Ungarn beginnt mit dem Abbau seiner Grenzanlagen zu Österreich. Damit werden zahlreiche Fluchtmöglichkeit für DDR-Bürger eröffnet. Als erster Staat des Warschauer Pakts nimmt Polen diplomatische Beziehungen zum Vatikan auf.

18.7. Auf einer Konferenz des KPdSU-Politbüros mit regionalen Parteiführern erklärt Gorbatschow: »Die Perestroika hinkt stark hinter den Prozessen in der Gesellschaft her«.

19.7. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ veröffentlicht einen Briefwechsel zwischen dem Greifswalder Bischof Horst Gienke und SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker, in dem die vermeintlich gute Gemeinschaft zwischen Marxisten und Christen in

der DDR beschworen wird. In Polen wird der Chef der Kommunistischen Partei, General Wojciech Jaruzelski, zum Staatspräsidenten gewählt.

20.7. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit beklagt in ihrer monatlichen Übersicht über die Lage in den sozialistischen Staaten, dass die Wahl von General Wojciech Jaruzelski zum polnischen Präsidenten nach dem überwältigenden Wahlsieg von Solidarność nur durch Stimmenthaltung von Abgeordneten und Senatoren der Gewerkschaft möglich geworden sei, die damit eine Gefährdung des friedlichen Übergangs zur Demokratie verhindern wollten.

21.7. Der ARD-Hörfunkkorrespondent in der DDR, Hartwig Heber, berichtet im RIAS über den großen Besucherandrang von ratsuchenden DDR-Bürgern in der Bonner Vertretung in Ost-Berlin. Bis zu 80 Personen kämen pro Tag, um sich bei den westdeutschen Diplomaten über Reisemöglichkeit nach Westdeutschland oder über eine dauerhafte Ausreise aus der DDR zu informieren. Nach UNO-Angaben haben 158.000 Mitglieder der türkischen Minderheit in Bulgarien inzwischen in der Türkei Asyl gefunden, nachdem ihnen in Bulgarien die Zwangsassimilation drohte.

22.7. Durch eine Nachwahl kommt erstmals seit 1947 ein Oppositionspolitiker ins ungarische Parlament. Innerhalb von drei Tagen gelingt zehn DDR-Bürgern die Flucht nach Bayern und Niedersachsen

23.7. Staatssekretär Walter Priesnitz vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen appelliert an alle DDR-Bürger, in ihrer Heimat zu bleiben, »damit die Wiedervereinigung der Deutschen nicht in der Bundesrepublik« stattfinde.

24.7. Die beiden evangelischen Pfarrer Markus Meckel und Martin Gutzeit rufen zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR auf.

25.7. Der polnische Staatspräsident Jaruzelski verweigert der Opposition Regierungsverantwortung unter dem Vorwand, dass dies Staaten wie die DDR misstrauisch machen würde.

26.07. Polen und die Europäische Gemeinschaft schließen ein Abkommen über die Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen.

27.7. Laut Beschluss des Obersten Sowjet sollen die drei baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen ab 1990 weitgehende wirtschaftliche Autonomie erhalten. Der kubanische Staats- und Parteichef Fidel Castro erklärt, die Unabhängigkeit und der sozialistische Kurs seines Landes hingen nicht von der Unterstützung der Sowjetunion ab. Er beklagt die „kapitalistischen Tendenzen“ in einigen Ostblockländern.

28.7. Ungarn baut am einstigen »Eisernen Vorhang« zu Österreich 117 der vormals 260 elektrischen Signalanlagen ab.

29.7. Mit einem Festakt im Plenarsaal des Reichstages wird an den 100. Geburtstag des ehemaligen Oberbürgermeisters der Westsektoren Berlins, Ernst Reuter, erinnert. Mit seinem Namen sind bis heute die Worte seiner Rede zur Berliner Luftbrücke von 1948 „Ihr Völker der Welt … schaut auf diese Stadt“ verbunden.

30.7. In Moskau wird die erste innerparteiliche Oppositionsgruppe „Interregionalen Gruppe“ ins Leben gerufen. Bei der Wahl des fünfköpfigen Präsidiums, dem auch Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow angehört, erhält der Radikalreformer Boris Jelzin die meisten Stimmen. Der Gruppe gehören etwa 400 Abgeordnete des Volksdeputiertenkongress und 90 des Obersten Sowjets an.

31.7. Der Oberste Sowjet streicht die Tatbestände »antisowjetische Propaganda und Agitation« aus dem Strafgesetzbuch.

AUGUST 1989

1.8. Die Zeitungen und Zeitschriften des Axel Springer-Verlages verzichten von nun an auf die Anführungszeichen bei der Nennung der DDR. Der im September 1985 verstorbenen Axel Springer hatte damit den provisorischen Charakter des Staates verdeutlicht wollen.

2.8. Gorbatschow betont die weitgehende Übereinstimmung mit den Regierungen in Bonn, London und Paris in zahlreichen konzeptionellen Fragen der Abrüstung und der »wirtschaftlichen Annäherung des Westens und des Ostens«.

3.8. Einer Meldung der West-Berliner »tageszeitung« (taz) zufolge, ist die Sowjetunion zu „ersten vierseitigen Vorgesprächen auf Arbeitsebene“ über die Berlin-Initiative bereit.

4.8. In einem in Ost-Berlin bekannt gewordenen Schreiben, das an den Vorsitzenden der atomkritischen Ärzte-Vereinigung IPPNW in der DDR, Professor Moritz Nebel, gerichtet ist, mahnen 67 christliche Mediziner demokratische Mitbestimmungsrechte und finanzielle Eigenständigkeit für die DDR-Sektion an. Wieder fliehen Dutzende DDR-Bürger über die ungarisch-österreichische Grenze und beantragen in der Bonner Botschaft in Wien einen bundesdeutschen Pass.

5.8. Die DDR-Führung nimmt erstmals im DDR-Fernsehen zu den Botschaftsflüchtlingen Stellung und räumt Probleme ein.

6.8. Die DDR warnt ihre Bürger davor, ihre Ausreise in bundesdeutschen Botschaften zu erzwingen und verweist in einer ADN-Meldung darauf, dass für ihre Angelegenheiten nur die DDR zuständig sei. Nach einer Informationsandacht in der Dresdner Paul-Gerhardt-Kirche ziehen etwa 1.500 Besucher zur nahegelegenen Baustelle für ein neues Reinstsiliziumwerk. Die Polizei schreitet mit Gewalt dagegen ein. Zahlreiche Festgenommene werden erst nach Stunden wieder freigelassen.

7.8. Das DDR-Außenministerium erklärt die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen durch westdeutsche Botschaften in Osteuropa zur Einmischung in »innere Angelegenheiten«.

8.8. Die Bonner Vertretung in Ost-Berlin stellt wegen Überfüllung den Besucherverkehr ein. Über 130 DDR-Bürger halten sich in der Vertretung auf, um ihre Ausreise zu erzwingen. In der westdeutschen Öffentlichkeit beginnt eine Diskussion darüber, ob und wie viele Flüchtlinge die Bundesrepublik noch aufnehmen könne. Nach Angaben von Kanzleramtsminister Rudolf Seiters sind bis Ende Juli bereits 46.343 DDR-Bürger legal in die Bundesrepublik gekommen. Er appelliert an ausreisewillige DDR-Bürger, nicht den Weg über bundesdeutsche Vertretungen in Osteuropa zu gehen.

9.8. Zwischen Frankfurt/Main, Düsseldorf und Leipzig richtet die Lufthansa die erste innerdeutsche Fluglinie ein. Der Chef der Senatskanzlei in West-Berlin appelliert an die DDR-Bürger, „Besonnenheit zu bewahren“.

10.8. Ungarn verzichtet nunmehr darauf, gescheiterte Fluchtversuche in die DDR-Pässe einzutragen. Die DDR räumt ein, dass sich 131 Bürger in Bonns Vertretung in Ost-Berlin und weitere 158 Flüchtlinge in seiner Budapester Botschaft aufhalten.

11.8. Vertreter von Bundeskanzleramt und DDR-Außenministerium nehmen Verhandlungen über die Lage der Ausreisewilligen in den bundesdeutschen Botschaften auf.

12.8. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ erklärt, dass der Bau der Berliner Mauer 1961 Ruhe und Stabilität gebracht und vor imperialistischen Übergriffen geschützt habe.

13.8. Vor dem Brandenburger Tor im Ostteil Berlins demonstrieren am Jahrestag des Mauerbaus mehrere DDR-Bürger für ihre Ausreise. 15 von 131 ausreisewilligen DDR-Bürgern verlassen die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin.

14.8. SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker verkündet: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest wird wegen Überfüllung geschlossen, weil sich dort bereits 171 fluchtwillige DDR-Bürger aufhalten, die in den Westen übersiedeln wollen.

15.8. Angesichts der andauernden Fluchtwelle schlägt der Ost-Berliner Konsistorialpräsident Manfred Stolpe in einem Interview der Kölner Tageszeitung „Express“ ein Spritzengespräch zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl sowie SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker vor.

16.8. Am Grenzübergang Stolpe/Heiligensee scheitert ein Fluchtversuch mit einem Tanklastwagen.

17.8. In einem Schreiben an die Pfarrer seines Kirchenbezirks äußert der Dresdner Superintendent Christof Ziemer massive Kritik am polizeilichen Vorgehen gegen Jugendliche, die mit einer Trommelaktion das gewaltsame Vorgehen der chinesischen Führung gegen die Demokratiebewegung in Peking beklagt hatten. Das polnische Parlament verurteilt den Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im Jahr 1968.

18.8. Ost-Berliner Bürgerrechtler und Mitglieder des niedersächsischen Landtags verweisen in einer gemeinsamen Erklärung zum 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen auf die notwendigen Kontrollaufgaben der Opposition in Staat und Gesellschaft.

19.8. In Sopron/Ungarn kommt es zur größten Massenflucht von DDR-Bürgern seit dem Mauerbau. Etwa 900 Menschen nutzen das vom Präsidenten der Paneuropa-Union, Otto von Habsburg, initiierte „Paneuropäische Picknick“ zur Flucht über die „grüne“ ungarisch-österreichische Grenze.

20.8. In einem Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl bekräftigen 115 Ausreisewillige in Bonns Ständiger Vertretung in Ost-Berlin die Absicht, bis zu einer akzeptablen Lösung auf dem Gelände bleiben zu wollen.

21.8. Am 21. Jahrestag der Niederschlagung des Prager Frühlings fordern 3.000 Demonstranten in Prag Demokratie und Freiheit. Die Demonstration wird durch die Polizei gewaltsam aufgelöst. An der österreichisch-ungarischen Grenze wird ein DDR-Bürger auf der Flucht erschossen.

22.8. Die Botschaft der Bundesrepublik in Prag wird wegen Überfüllung geschlossen. Rund 140 DDR-Bürger wollen von dort aus in den Westen übersiedeln. Etwa 200 DDR-Bürgern gelingt in einer nächtlichen Massenaktion die Flucht von Ungarn nach Österreich.

23.8. Am Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes demonstrieren rund zwei Millionen Litauer, Letten und Esten mit einer Menschenkette zwischen Vilnius und Talinn für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Ein Fluchtversuch von etwa 300 DDR-Bürgern nach Österreich scheitert am Einsatz von ungarischen Sicherheitsorganen.

24.8. In Polen wird der Kandidat des „Bürgerkomitees Solidarność“, Tadeusz Mazowiecki, erster nichtkommunistischer Regierungschef eines Warschauer-Pakt-Staates. In Budapest erhalten 108 Bürger der DDR, die sich in der Botschaft der Bundesrepublik aufhalten, durch die ungarische Regierung als einmalige humanitäre Aktion die Ausreiseerlaubnis in den Westen.

25.8. In einem Interview des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes (Hamburg) äußert der Ost-Berliner Schriftsteller Stefan Heym Zweifel an der Reformfähigkeit der SED.

26.8. Bei einem Menschenrechtsseminar in der Berliner Golgathakirche stellen die beiden evangelischen Pfarrer Markus Meckel und Martin Gutzeit einen Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR vor. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ fordert die Bevölkerung zum Bleiben in der DDR auf.

27.8. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel wirft der SED in einem Deutschlandfunk-Interview „Reformunwilligkeit“ vor. Vertreter der Evangelischen Allianz in der DDR appellieren an die Christen in der DDR, im Lande zu bleiben.

28.8. Bundespräsident Richard von Weizsäcker bekräftigt in einem Schreiben an den polnischen Staatspräsidenten Jaruzelski den Verzicht der Bundesrepublik auf Gebietsansprüche an Polen. Der Malteser-Caritas-Dienst in Budapest registriert 1.800 DDR-Flüchtlinge.

29.8. Die aus der DDR stammende Schriftstellerin Monika Maron wirft SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker „starken Realitätsverlust“ vor. Er lese nur noch „gefälschte Berichte“ über die Situation in der DDR, sagt sie im Schweizer Fernsehen.

30.8. In Bayern wird mit den Vorbereitungen zur Errichtung von Notaufnahmelagern für DDR-Flüchtlinge begonnen.

31.8. Österreich setzt die Visumspflicht für DDR-Bürger aus, um ihnen die Durchreise in die Bundesrepublik zu erleichtern.

SEPTEMBER 1989

1.9. Die Stadt Leipzig fordert von der Nikolaigemeinde vergeblich, die in der Sommerpause unterbrochenen Friedensgebete nicht schon am 4. September wieder zu beginnen. In Ost-Berlin bilden Angehörige der Friedensbewegung am Weltfriedenstag eine Menschenkette zwischen der sowjetischen und der US-amerikanischen Botschaft.

2.9. Die Leitung des DDR-Kirchenbundes bezeichnet in einem Schreiben an DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker eine mündige Beteiligung der Bürger an der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse als „unabdingbar“. Bei einem Seminar zum 25-jährigen Bestehen von waffenlosen Baueinheiten in der DDR-Volksarmee beklagen Teilnehmer die Ersatzdienstregelung als „faulen Kompromiss“. In ungarischen Lagern warten mehr als 3.500 DDR-Bürger auf Ausreise in die Bundesrepublik.

3.9. In der Lübecker Bucht erreicht als der wohl letzte DDR-Bürger, der eine Flucht über die Ostsee riskiert, nach 20 Stunden das westdeutsche Festland.

4.9. An das erste Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche nach der Sommerpause schließt sich eine Demonstration für „offene Grenzen, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit“ vor laufenden Kameras westlicher Medien an. Danach kommt es zu einem Demonstrationszug „Für freie Fahrt nach Gießen“, der auf dem Leipziger Hauptbahnhof endet. In der Reformierten Kirche spricht Friedrich Schorlemmer über Chancen der „gesellschaftlichen Erneuerung“.

5.9. Kirchliche Hilfswerke rechnen damit, dass bis zu 20.000 DDR-Bürger bei der bevorstehenden Ausreisewelle über Ungarn in die Bundesrepublik kommen.

6.9. Die „Umweltbibliothek“ in der Ost-Berliner Zionsgemeinde ruft zu einem breiten Bündnis aller Demokraten in der DDR auf. Beim traditionellen „Messemännerabend“ in Leipzig fordert der Dresdner Superintendent Christof Ziemer einen gesamtgesellschaftlichen Erneuerungsprozess, der sich an der Teilhabe aller Bürger orientiert. Einer ADN-Meldung zufolge haben sich Bonn und Ost-Berlin grundsätzlich über einen Lösungsweg für die Botschaftsflüchtlinge geeinigt.

7.9. Auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz protestieren Bürgerrechtler gegen die Fälschung der Kommunalwahlen vom 7. Mai. DDR-Sicherheitskräfte unterbinden die Aktion und nehmen etwa 80 Personen vorübergehend fest.

8.9. Stasi-Mitarbeiter beschlagnahmen in Leipzig eine während des Kirchentages im Frühsommer gezeigte Foto-Dokumentation über Polizeimaßnahmen nach Friedensgebeten und anderen Ereignissen. Nach entsprechenden Zusicherungen durch den DDR-Anwalt Wolfgang Vogel verlassen alle DDR-Bürger Bonns Ständige Vertretung in Ost-Berlin.

9.9. Die Leitung des DDR-Kirchenbundes verweist in einem Schreiben an SED-Staats-und Parteichef Erich Honecker darauf, dass die Verweigerung längst überfälliger Reformen zu der nach wie vor hohen Zahl ausreisewilliger DDR-Bürger geführt habe

10.9. In Ost-Berlin wird der Gründungsaufruf der Initiative „Neues Forum“ veröffentlich. Er ist von 30 Bürgerrechtlern aus der ganzen DDR unterzeichnet. Ungarn öffnet ohne vorherige Absprache mit der DDR-Führung den im Land anwesenden DDR-Ausreisewilligen die Grenzübergänge nach Westen. Bis Ende September kommen etwa 30.000 Übersiedler auf diesem Weg in die Bundesrepublik.

11.9. Am Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, an dem auch der sächsische Landesbischof Johannes Hempel teilnimmt, wird der Brief der Kirchenleitungen an Erich Honecker verlesen und von den rund 1.300 Teilnehmern mit Beifall aufgenommen. Während des Gebets riegeln Polizeiketten das Gebiet um die Nikolaikirche hermetisch ab. Beim Verlassen der Kirche werden 89 Personen festgenommen. Viele werden später ohne

Gerichtsverfahren zu Geldstrafen zwischen 1.000 und 5.000 Mark verurteilt. 19 Besucher des Friedensgebetes kommen erst Mitte Oktober aus Stasi-Haft wieder frei.

12.9. Die Bürgerinitiative „Demokratie Jetzt“ fordert in ihrem Gründungsaufruf zur „Einmischung in die eigenen Angelegenheiten“ auf. Die SED-Führung protestiert gegen die Öffnung der ungarischen Grenze für Bürger der DDR und nennt das Vorgehen der Budapester Führung „organisierten Menschenhandel“.

13.9. In Leipzig bildet sich eine Gruppe, die Solidaritätsaktionen für inhaftierte Oppositionelle koordiniert. Sie erhält von der Markus-Gemeinde einen Raum mit Telefon. Sie organisiert in den folgenden Wochen tägliche Fürbittandachten und informiert über die Vorgänge in der Stadt.

14.9. Die evangelischen Kirchenzeitungen in der DDR dokumentieren das Schreiben, mit dem der DDR-Kirchenbund „längst überfällige“ Reformen in der DDR angemahnt hat.

22.9. SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker fordert in einem Fernschreiben an die SED-Bezirksleitungen, „die feindlichen Aktionen“ im Keim zu ersticken und die „Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit“ zu isolieren. In Bonn verhandelt der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters über DDR-Bürger, die in der Ständigen Vertretung Zuflucht gesucht haben.

23.9. In Weißenfels veranstalten 20 Jugendliche auf der Hauptverkehrsstraße einen Sitzstreik. Sie fordern die Zulassung des „Neuen Forums“ und rufen „Wir wollen raus“.

24.9. In Leipzig beraten erstmals Oppositionsgruppen wie Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Vereinigten Linke über ein gemeinsames Vorgehen.

25.9. Im Anschluss an das wöchentliche Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche ziehen rund 8.000 Menschen vom Nikolaikirchhof in Richtung Hauptbahnhof. Sie singen „We shall overcome“ und skandieren „Freiheit“ und „Neues Forum“. Ein Dutzend Demonstranten wird von Sicherheitskräften festgenommen. Zu den zahlreichen DDR-Orten, in denen Fürbittandachten für die inhaftierten Bürgerrechtler stattfinden, gehören Altenburg, Dresden, Eisenhüttenstadt, Gera, Großhennersdorf, Halle, Jena, Karl-Marx-Stadt, Potsdam, Quedlinburg, Schwedt und Zwickau. Die mehr als 300 Teilnehmer einer Andacht in der Ost-Berliner Gethsemanekirche äußern „Wut und Enttäuschung“ über das staatliche Vorgehen.

26.9. Der Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel versucht, in der bundesdeutschen Botschaft in Prag die über tausend ausreisewilligen DDR-Bürger zur Rückkehr zu bewegen, nachdem ihnen die Ausreise in den Westen binnen sechs Monaten zugesichert wurde. Viele Flüchtlinge bleiben jedoch in der Botschaft, da sie direkt in die Bundesrepublik ausreisen wollen. Nur rund 200 Personen geben seinem Drängen nach.

27.9. Bei einer Fürbittandacht für politische Gefangene in der Ost-Berliner Samariterkirche wird berichtet, dass in Leipzig mindestens 17 Oppositionelle in Haft seien und gegen 22 Teilnehmer der Leipziger Friedensgebete Ordnungsstrafen von insgesamt über 60.000 Mark verhängt wurden. Aus Furcht vor einer starken, serbisch dominierten Zentralmacht verabschiedet das slowenische Parlament mehrere Änderungen der Verfassung, die auch einen Austritt aus dem jugoslawischen Bund ermöglichen.

28.9. In der bundesdeutschen Botschaft in Warschau entschließen sich etwa 50 der 600 Botschaftsflüchtlinge zur Rückkehr in die DDR. Der Bezirksstaatsanwalt in Leipzig droht den Pfarrern Christian Führer und Christoph Wonneberger mit Haftstrafen, falls sie weiterhin das „Recht der DDR verletzen“.

29.9. In Leipzig werden elf Demonstranten wegen „Zusammenrottung“ zu Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten verurteilt. Die Dresdner Initiativgruppe „Demokratische Erneuerung“ ruft dazu auf, Vorschläge für eine Reform des DDR-Wahlrechts zu machen. In der „Leipziger Volkszeitung“ beginnt eine Leserbriefkampagne gegen die Teilnehmer der Friedensgebete bzw. der Demonstrationen. Auch Leipzigs Oberbürgermeister Bernd Seidel (SED) äußert sich diffamierend über Kirche und Opposition.

30.9. In der Prager Botschaft eröffnet Außenminister Hans-Dietrich Genscher den fast 7.000 Flüchtlingen, dass ihre Ausreise bevorstehe. Aus Warschau können die rund 800 Botschaftsflüchtlinge mit einem Zug der Reichsbahn nach Westen ausreisen.

Im Martin-Gropius-Bau in West-Berlin wird eine Ausstellung zum Werk des aus der DDR stammenden Künstlers Bernhard Heisig eröffnet. Der Leipziger Superintendent Johannes Richter ruft in Schreiben an seine Pfarrer zur Gewaltlosigkeit auf.

OKTOBER 1989

1.10. Die ersten Sonderzüge aus Warschau und Prag mit etwa 6.800 Flüchtlingen durchqueren die DDR. Zahlreiche DDR-Bürger versuchen, auf die Züge aufzuspringen. In Prag versammeln sich vor der Bonner Botschaft erneut rund 7.600 Menschen, denen die tschechoslowakische Polizei den Zugang zum Botschaftsgelände zu verwehren sucht. In einem Kommentar empfiehlt die DDR-Nachrichtenagentur ADN, den Botschaftsflüchtlingen „keine Träne“ nachzuweinen. In Ost-Berlin konstituiert sich die Reformgruppe „Demokratischer Aufbruch“ mit den Pfarrern Rainer Eppelmann, Erhard Neubert, Edelbert Richter und Friedrich Schorlemmer.

2.10. In der Ost-Berliner Gethsemanekirche beginnt eine unbefristete Mahnwache für die politischen Gefangenen in der DDR. Am Kirchturm macht ein großes Transparent auf die Mahnwache aufmerksam. In Leipzig finden zeitgleich Friedensgebete in der Nikolaikirche und in der Reformierten Kirche mit insgesamt 2.500 Menschen statt. Im Anschluss an die Friedensgebete beteiligen sich rund 20.000 Menschen an einer Demonstration, die von Polizei, Sondereinheiten und Kampfgruppen gewaltsam aufgelöst wird. Gewandhauskapellmeister Kurt Masur erklärt zu dem Vorgehen „Ich schäme mich“ und ruft zu einem gesamtgesellschaftlichen Dialog auf.

3.10. Die DDR-Führung verschärft die Reisebestimmungen nach Polen und hebt den visafreien Reiseverkehr in die CSSR auf. Damit ist für DDR-Bürger kein Land mehr nur mit dem Personalausweis erreichbar. Auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag haben 4.500 DDR-Bürger Zuflucht gesucht. Am Abend erlaubt die DDR ihre Ausreise. Auf dem Dresdener Hauptbahnhof versammeln sich zahlreiche Menschen, die auf die Züge aus Prag mit den Botschaftsbesetzern warten, um mit ausreisen zu können. Als die Polizei kurz nach Mitternacht den Bahnhof zu räumen versucht, kommt der Bahnverkehr teilweise zum Erliegen.

4.10. In Prag beginnt für weitere 7.600 DDR-Bürgern die Ausreise in Sonderzügen über das DDR-Gebiet. Am Dresdner Hauptbahnhof versuchen rund 5.000 Menschen, sich Zugang zu den Flüchtlingszügen zu verschaffen. Die Sicherheitskräfte gehen mit Schlagstöcken und Wasserwerfern vor. Aus dem gewaltsamen Widerstand entwickelt sich eine Straßenschlacht, bei der sämtliche Scheiben des Bahnhofs zu Bruch gehen sowie zahlreiche Fahrzeuge in den angrenzenden Straßen demoliert werden. Ausreisewillige und Demonstranten liefern sich Beobachtern zufolge die schwersten Auseinandersetzungen mit DDR-Sicherheitskräften seit dem 17. Juni 1953. In der Innenstadt bieten die Kirchen Schutz und Beratung an. Zwischen Bahnhof und Altstadt unterstreichen zahlreiche Menschen bei friedlichen Demonstrationen mit brennenden Kerzen ihren Willen zur Gewaltlosigkeit. Die DDR-weite Reformgruppe „Neues Forum“ warnt vor Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. In Leipzig tagt die Bezirkseinsatzleitung und beschließt, den Einsatz von Armee-Einheiten gegen Demonstranten vorzubereiten. An der täglichen Fürbittandacht in der Ost-Berliner Gethsemanekirche nehmen mehr als 1.000 Menschen teil.

5.10. In Dresden lösen Sicherheitskräfte die Demonstrationen gewaltsam auf. In Magdeburg werden etwa 250 der 800 Teilnehmer einer Demonstration festgenommen. Der vom „Neuen Forum“ Anfang September veröffentlichte Aufruf verzeichnet bereits über 10.000 Unterschriften. Etwa 100 DDR-Bürger, die zuvor mehrere Tage die Kreuz- und die Dreikönigskirche in Dresden besetzt hatten, können ausreisen. An den innerstädtischen Grenzübergängen wird zahlreichen West-Besuchern die Einreise in die DDR verwehrt. Staatssicherheitsminister Erich Mielke weist die Stasi-Dienststellen in Ost-Berlin an, Reservekräfte zu mobilisieren und die Maßnahmen zur Unterbindung von Demonstrationen effizienter zu gestalten.

6.10. In der Ost-Berliner Erlöserkirche beteiligen sich mehr als 2.000 zumeist junge Leute an einer „Zukunftswerkstatt“. Dabei fordern fünf überregionale Reformgruppen eine demokratische Umgestaltung der DDR sowie freie Wahlen unter UN-Kontrolle. Der Thüringer Landesbischof Werner Leich bittet die Pfarrer seiner Landeskirche, Friedensgebete vorzubereiten und die Kirchen als Zufluchtsorte zu öffnen. Die „Leipziger Volkszeitung“ veröffentlicht die Erklärung eines Kampfgruppenkommandeurs, in der es heißt: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionäre Aktion endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Dagegen gehen bei staatlichen Stellen eine Vielzahl von Protestbriefen ein.

7.10. Mit großem Aufwand feiert die SED in Ost-Berlin das 40-jährige Bestehen der DDR. Zeitgleich mit dem Festbankett, an dem zahlreiche Staats- und Parteigäste teilnehmen, demonstrieren auf dem Alexanderplatz junge Leute gegen die Wahlfälschung im Mai. Zusammen mit einigen tausend Teilnehmern des Volksfestes ziehen sie anschließend zur Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg und von dort wiueder zur Innenstadt, wo der friedliche Protest nach Stunden gewaltsam beendet wird. Viele werden verletzt, zahlreiche festgenommen und misshandelt. Am selben Abend kommt es auch in Arnstadt, Dresden, Erfurt, Halle, Ilmenau, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen, Potsdam und Suhl zu friedlichen Demonstrationen. Die meisten von ihnen werden brutal aufgelöst, über tausend Menschen festgenommen. In der Leipziger Innenstadt versuchen zwischen 300 und 2.000 Personen den Tag über zu demonstrieren. Die Sicherheitskräfte gehen brutal dagegen vor. Fast 200 Personen werden verhaftet und u.a. in Pferdeställen auf dem Gelände der Agra festgehalten, das als Internierungslager für den „Spannungsfall“ vorgesehen ist. In Schwante

bei Berlin gründen 43 Teilnehmer eines Treffens im evangelischen Pfarrhaus die „Sozialdemokratische Partei in der DDR“ (SDP).

8.10. Nach einer Fürbittandacht in der Ost-Berliner Gethsemanekirche kommt es erneut zu einer Demonstration mit tausenden Teilnehmern. Die Sicherheitskräfte riegeln alle Straßen im Umfeld der Gethsemanekirche ab und lassen erst nach Intervention von Bischof Gottfried Forck die Gottesdienstbesucher in kleinen Gruppen passieren. Dennoch bildet sich ein friedlicher Protestzug, der mit brutaler Gewalt aufgelöst wird. Auch aus anderen Orten werden Demonstrationen gemeldet, die die DDR-Sicherheitskräfte brutal beenden. In Dresden wird nach einer Demonstration mit 10.000 Teilnehmern auf kirchliche Intervention der Polizeieinsatz friedlich beendet und ein Gespräch im Rathaus verabredet. Als Vertreter der Demonstranten fungiert eine spontan gebildete „Gruppe der 20“. In Ungarn löst sich als erste regierende Ostblock-Partei die KP auf.

9.10. In Leipzig demonstrieren im Anschluss an das Montagsgebet in der Nikolaikirche und vier weiteren Innenstadtkirchen erstmals über 70.000 Menschen für politische Reformen. Sie werden von einem erheblichen Aufgebot an Sicherheitskräften begleitet, aber nicht behindert. Wiederholt skandiert wird dabei „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt“. Zuvor hatte der sächsische Landesbischof Johannes Hempel die Teilnehmer der Friedensgebete in den fünf von ihm nacheinander aufgesuchten Kirchen ermahnt, friedlich zu bleiben und sich bei der Demonstration nicht provozieren zu lassen. An der Nikolaikirche hängt ein großes Tuch mit der Aufschrift: „Leute keine sinnlose Gewalt, reißt Euch zusammen“. Dem gleichen Ziel dient ein Aufruf, mit dem Leipziger Basisgruppen zur Gewaltlosigkeit aufrufen und der auch in den Friedensgebeten verlesen wird. Ein weiterer Aufruf, der auch über den Leipziger Stadtfunk verbreitet wird, drängt auf Dialog mit den Herrschenden in der DDR. Er stammt von Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur und fünf weiteren Personen, darunter drei Sekretären der SED-Bezirksleitung. In der überfüllten Gethsemanekirche in Ost-Berlin fordert Bischof Gottfried Forck „glaubwürdige Schritte“ hin zu einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. In Dresden führt Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (SED) erstmals mit Vertretern der Kirchen und Reformgruppen ein Gespräch über die angespannte Situation in der Stadt. In vier überfüllten Innenstadtkirchen berichten Teilnehmer des Gespräch über die von Berghofer zugesagte Freilassung der friedlichen Demonstranten. Die Stralsunder Nikolaikirche kann nicht mehr alle Besucher des Friedensgebets fassen.

10.10. Die wöchentliche SED-Politbürositzung findet in erweiterter Runde statt und wird um einen Tag verlängert. In einer Erklärung signalisiert die SED-Führung erstmals Bereitschaft zu einem Dialog und betont, dass es sie nicht „gleichgültig“ lasse, „wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben“.

11.10. Das SED-Politbüro erklärt in Ost-Berlin seine Bereitschaft, sich der Diskussion mit der Bevölkerung zu stellen, und kündigt „Vorschläge für einen attraktiven Sozialismus“ an. In Dresden veröffentlicht das Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens eine Kanzelabkündigung von Landesbischof Johannes Hempel, in der er sich für einen gesamtgesellschaftlichen Dialog und Gewaltfreiheit einsetzt.

12.10. In der Ost-Berliner Gethsemanekirche sprechen sich die mehr als 2.000 Teilnehmer an einer Fürbittandacht für die Fortsetzung der Mahnwache aus. Bischof Gottfried Forck, Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und Generalsuperintendent Günter Krusche mahnen in einem Gespräch mit dem Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack (SED) Reisefreiheit, freie Medien und Mitsprache der Bürger bei gesellschaftspolitischen Entscheidungen an.

Auch in Leipzig findet ein Gespräch zwischen Oberbürgermeister Bernd Seidel (SED) und leitenden Kirchenvertretern statt. Dabei regt Superintendent Johannes Richter an, dass sich ein verantwortlicher Vertreter der Stadt am nächsten Montag den Menschen stellt. Das Europäische Parlament fordert in einer Erklärung demokratische Reformen in der DDR. Der West-Berliner Bischof Martin Kruse bittet in einem Brief an seine Gemeinden, auf gute Ratschläge an die Christen und Kirchen in der DDR zu verzichten. Es gebe genügend Hinweise, dass die Menschen in der DDR bereit seien, ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

13.10. Der DDR-Generalstaatsanwalt kündigt die Freilassung der bei den Demonstrationen Festgenommenen an. In einem Interview der Ost-Berliner Tageszeitung „Neue Zeit“ fordert der stellvertretende Vorsitzende des DDR-Kirchenbundes, Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, „echte Wahlen“ und Reisefreiheit für alle Bürger in der DDR. In einem Schreiben an Ministerpräsident Willi Stoph protestiert Bischof Gottfried Forck gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte bei den friedlichen Demonstrationen am 7. und 8. Oktober. In Leipzig kommt es zu einem ersten Gespräch zwischen Vertretern von kirchlichen Gruppen und dem Rat des Bezirkes. In Ost-Berlin nennen mehrere Reformgruppen als Voraussetzung für den Dialog mit der SED die Freilassung aller politischen Gefangenen und die Einstellung der Ermittlungen.

14.10. Bei einem DDR-weiten Treffen des „Neuen Forums“ in Ost-Berlin beraten die rund 100 Delegierten über gemeinsame Aufgaben und Ziele. In einem Brief an die Gemeinden der Thüringer Kirche fordert der Vorsitzende des evangelischen Kirchenbundes, Landesbischof Werner Leich (Eisenach), die DDR-Sicherheitskräfte dazu auf, auf Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu verzichten.

15.10. Tausende Menschen demonstrieren in Halle und Plauen für demokratische Reformen. In der Ost-Berliner Erlöserkirche beteiligen sich zahlreiche Musiker und Künstler an einem Benefizkonzert für die Opfer der Übergriffe bei den friedlichen Demonstrationen am 7. und 8. Oktober. Dabei wird wiederholt die Forderung erhoben, die Gewalttätigkeiten in Ost-Berlin, Dresden und anderen Städten durch unabhängige Kommissionen untersuchen zu lassen. In einem Brief an seine Gemeinden, der in den Gottesdiensten verlesen wird, fordert der sächsische Landesbischof Johannes Hempel die SED zum Dialog mit den jungen Leuten im Land auf. Der Schriftsteller Vaclav Havel erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, kann ihn aber, da ihn die Prager Regierung nicht reisen lässt, nicht selbst entgegen nehmen.

16.10. Im Anschluss an das Montagsgebet in der Leipziger Nikolaikirche kommt es zu der bislang größten Demonstration in der DDR seit dem Aufstand vom 17. Juni 1953. An ihr beteiligen sich mehr als 120.000 Menschen. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN meldet erstmals den friedlichen Verlauf. ADN meldet erstmals den friedlichen Verlauf. Friedliche Demonstrationen für demokratische Reformen werden an diesem Tag auch aus Ost-Berlin, Dresden, Halle, Magdeburg und Plauen gemeldet. In Dresden fordert Superintendent Christof Ziemer bei einem Gespräch der „Gruppe der 20“ mit Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (SED) eine unabhängige Untersuchung der gewalttätigen Übergriffe auf friedliche Demonstranten. In Potsdam kommt es zum ersten Gespräch zwischen Vertretern des Neuen Forums und Repräsentanten von Stadt und SED.

17.10. Das SED-Politbüro beschließt die Absetzung von SED-Staats- und Parteichef Erich Honecker. In Dresden kommen 20.000 Menschen in fünf Kirchen zusammen, wo Sprecher

der „Gruppe der 20“ über die Gespräche mit Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer informieren. Warschau lässt erstmals Botschaftsflüchtlinge ausfliegen.

18.10. In Ost-Berlin tagt das SED-Zentralkomitee. Erich Honecker wird „auf eigenen Wunsch“ von allen Ämtern entbunden. Zum Nachfolger als SED-Generalsekretär wird Egon Krenz berufen. Er räumt in einer Fernsehansprache ein, dass die SED in den letzten Monaten die reale Lage verkannt habe. Die Partei habe aber eine „Wende eingeleitet“ und strebe einen „ernstgemeinten innenpolitischen Dialog“ an. Der „Sozialismus auf deutschem Boden“ stehe jedoch nicht zur Disposition. In Greifswald gehen erstmals mehrere Tausend Menschen nach einem Friedensgebet im Dom für demokratische Reformen auf die Straße. Bei einer Informationsveranstaltung über das „Neue Forum“ in Potsdam-Babelsberg ist der Andrang so groß, dass sie für die mehr als 5.000 Besucher zweimal wiederholt werden muss. In mehreren Orten drängen die neuentstanden Reformgruppen darauf, sich auch in nichtkirchlichen Räumen oder auf öffentlichen Plätzen treffen zu können

19.10. Aus Rostock wird die erste Demonstration mit 10.000 Teilnehmern gemeldet. Vorausgegangen waren Fürbittandachten in mehreren Kirchen. In ostsächsischen Zittau nehmen 10.000 Menschen an einer Veranstaltung des „Neuen Forums“ teil. In Halle werden Vertreter des „Neuen Forums“ in Polizeigewahrsam genommen und angewiesen, keine Kontakte zur Leipziger Opposition aufzunehmen. Am Werbellinsee trifft der neue SED-Chef Egon Krenz mit dem Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes, Bischof Werner Leich, zusammen. Wie Leich anschließend betont, habe er dabei „schnelle und deutliche Zeichen eines Neubeginns“ gefordert. DDR-Innenminister Friedrich Dickel wird vom Ministerrat beauftragt, umgehend einen Gesetzentwurf über Reisen für DDR-Bürger ins Ausland vorzubereiten.

20.10. In Dresden fordern über 20.000 Menschen bei einer Kundgebung freie Wahlen sowie Rede- und Versammlungsfreiheit. In Gotha demonstrieren 6.000 Menschen für demokratische Reformen. In Ost-Berlin appelliert Bischof Gottfried Forck an die SED, sich für die Wahlfälschungen öffentlich zu entschuldigen.

21.10. Die sächsische Synode verurteilt in Dresden das gewalttätige Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte Anfang Oktober gegen friedliche Demonstranten. Die Verantwortlichen, die dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssten, sollten sich öffentlich entschuldigen, fordert Landesbischof Johannes Hempel. Aus Ost-Berlin, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Plauen, Potsdam und zahlreichen anderen Orten werden friedliche Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern gemeldet.

22.10. Unter Leitung von Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur kommt es erstmals zu einer öffentlichen Diskussion von SED-Funktionäre mit Vertretern der Bürgerschaft und der Kirche in der Messestadt.

23.10. In Ost-Berlin fordern Vertreter fast aller neuen Reformgruppen sowie kirchlicher Basisgruppen politische Konsequenzen aus den brutalen Übergriffen bei den friedlichen Demonstrationen am 7. und 8. Oktober. In einer internationalen Pressekonferenz übergeben sie eine vom evangelischen Stadtjugendpfarramt erstellte Dokumentation über das gewalttätige Vorgehen der DDR-Sicherheitskräfte an den 1. stellvertretenden DDR-Generalstaatsanwalt Klaus Voß. In Dresden fordert die sächsische Landessynode eine klare Trennung der Zuständigkeiten von Staat und Partei sowie unabhängige Gerichte, eine Revision des Strafrechts und eine Reform des Wahlrechts. In Leipzig gehen am Abend 300.000 Menschen für demokratische Reformen auf die Straße. Zehntausende demonstrieren

zudem in Ost-Berlin, Halle, Magdeburg, Plauen, Potsdam, Schwerin, Stralsund, Zwickau und anderen Orten. In Dresden protestieren über 50.000 Menschen gegen die geplante Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden.

24.10. Die Volkskammer wählt SED-Chef Egon Krenz bei 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen zum Vorsitzenden des DDR-Staatsrats. In der Ost-Berliner Innenstadt demonstrieren 12.000 Menschen gegen seine Wahl. Im „Haus der Jungen Talente“ in Ost-Berlin findet am Abend eine öffentliche Podiumsdiskussion statt, an der erstmals politisch Verantwortliche gemeinsam mit Oppositionellen wie Bärbel Bohley und Jens Reich teilnehmen. Die sächsische Landessynode fordert die Freilassung aller „Republikflüchtlinge“ und die Einstellung aller laufenden Verfahren nach missglückten Fluchtversuchen. In einem Fernseh-Interview stellt der Ost-Berliner Bischof Gottfried Forck den Führungsanspruch der SED in Frage. Er erwarte zudem, dass sich die SED-Führung für den Wahlbetrug Anfang Mai 1989 entschuldige. Der mecklenburgische Bischof Christoph Stier mahnt im Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden des Bezirks Schwerin, Rudi Fleck (SED), die offizielle Zulassung der neuen Vereinigungen und Parteien an. In Weimar kommt es zur ersten Demonstration für politische Veränderungen, an der sich 15.000 Menschen beteiligen.

25.10. Mit Demonstrationen in über 30 Städten, darunter in Ost-Berlin, Greifswald, Halberstadt und Jena, werden die friedlichen Proteste gegen die SED fortgesetzt. In Neubrandenburg beteiligen sich nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche über 20.000 Menschen an einem „Marsch der Hoffnung“. In Ost-Berlin weist Stasi-Minister Erich Mielke erhöhte Kampfbereitschaft und das Tragen der Schusswaffe an.

26.10. In Ost-Berlin kommt SED-Bezirkschef Günter Schabowski mit Jens Reich und Sebastian Pflugbeil vom Neuen Forum zu einem Gespräch zusammen. In Dresden, wo die „Gruppe der 20“ bei einem ersten Auftritt im Stadtrat freie Wahlen fordert, beteiligen sich über 100.000 Menschen an einem Protestzug durch die Stadt. Friedliche Demonstrationen werden auch aus knapp 30 weiteren Orten gemeldet. Egon Krenz führt ein 20-minütiges Telefongespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl.

27.10. Der DDR-Staatsrat beschließt eine Amnestie für alle, die geflüchtet sind oder bei Fluchtversuchen festgenommen wurden, sowie für alle, denen im Zusammenhang mit den Demonstrationen „Straftaten gegen die staatliche oder öffentliche Ordnung“ vorgeworfen wurde. Der DDR-Ministerrat hebt die zeitweise Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs in die Tschechoslowakei zum 1. November auf. Die DDR-weite Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ ruft zu einem Volksentscheid über die Führungsrolle der SED auf. Das Vorstandsmitglied der DDR-Sozialdemokraten, Steffen Reiche, berichtet, dass rund 740.000 DDR-Bürger einen Ausreiseantrag gestellt haben. Aus Dresden, Großräschen, Güstrow, Karl-Marx-Stadt, Saalfeld und anderen Orten werden Demonstrationen gemeldet. Die Außenminister der Ostblockstaaten bekennen sich zu freien Wahlen.

28.10. In der Ost-Berliner Erlöserkirche sprechen sich Künstler und Schriftsteller gegen den Alleinvertretungsanspruch der SED sowie für Reformen aus. Das Deutsche Theater in Ost-Berlin ehrt mit einem Abend den Altkommunisten Walter Janka, der 1957 zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. In über 30 Orten gehen wieder Menschen zu friedlichen Protesten auf die Straße. Der Leiter der Evangelischen Akademie in Ost-Berlin, Walter Bindemann, berichtet, dass bei Fürbittandachten in den vergangenen Wochen mehr als 150.000 Mark für Opfer von Polizeigewalt bei Demonstrationen gesammelt wurden. In der CSSR werden erste Demonstrationen von Polizei und Staatssicherheit gewaltsam aufgelöst.

29.10. In Ost-Berlin, Leipzig und anderen Orten stellen sich hohe SED-Funktionäre in „Sonntagsgesprächen“ den kritischen Fragen der Bevölkerung. SED-Bezirkschef Schabowski kündigt in Ost-Berlin an, dass künftig die Demonstration „zur politischen Kultur der Stadt“ gehören werde. Bei einem Treffen der oppositionellen „Initiative Frieden und Menschenrechte“ in Ost-Berlin sprechen sich die Teilnehmer für einen Volksentscheid über die Führungsrolle der SED aus. Ebenfalls in Ost-Berlin wählen die knapp 200 Vertreter der DDR-weiten Oppositionsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ den Rostocker Anwalt Wolfgang Schnur zu ihrem Vorsitzenden. Die Vereinigung hat nach eigenen Angaben 6.000 Mitglieder und strebt für 1990 den Parteistatus an. In zahlreichen Orten kommt es nach den morgendlichen Gottesdiensten zu friedlichen Protesten und Demonstrationen für gesellschaftliche Erneuerung.

30.10. Mehr als 200.000 Menschen beteiligen sich in Leipzig an der wöchentlichen Montagsdemonstration. Das DDR-Fernsehen berichtet erstmals in einer Live-Sendung darüber. Am selben Tag gehen unter anderem in Cottbus 20.000, in Halle 50.000, in Karl-Marx-Stadt 20.000, in Pößneck 5.000 und in Schwerin 40.000 Menschen auf die Straße. Die Ost-Berliner Tageszeitung „Neue Zeit“ berichtet, dass der Meininger Oberkirchenrat Roland Hoffmann gegenüber dem Vorsitzenden des Bezirks Suhl, Arnold Zimmermann, ein Ende der Aufenthalts- und Zugangsbeschränkungen im DDR-Grenzgebiet gefordert habe. Das DDR-Fernsehen nimmt die Sendung „Der schwarze Kanal“ des SED-Chef-Kommentators Karl-Eduard von Schnitzler nach fast 30 Jahren aus dem Programm.

31.10. Das DDR-Innenministerium teilt mit, dass nunmehr die Zulassung der Bürgerinitiative „Neues Forum“ geprüft werde. Vertreter der Görlitzer Kirchenleitung fordern in einem Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden des Bezirks Dresden, Günther Witteck (SED), ein ungehindertes Reisen in das benachbarte Polen. Das Volksbildungsministerium nimmt die 1988 erfolgte Relegierung von vier Schülern der Ost-Berliner Carl-von-Ossietzky-Schule zurück, die an der Wandtafel den Sinn von Militärparaden in Frage gestellt hatten. In der Lutherstadt Wittenberg demonstrieren am Reformationstag 15.000 Menschen. Sie heften ihre Forderungen als sieben Thesen an die Rathaustür. In Nordhausen nehmen 10.000 Menschen an einer Kundgebung auf dem Marktplatz teil. Demonstrationen werden auch aus Meiningen, Meißen, Weimar und anderen Städtern gemeldet.

NOVEMBER 1989

1.11. Egon Krenz trifft in Moskau zu einem dreistündigen Gespräch mit Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow zusammen. Nach dem Gespräch äußert er vor der Presse die Ansicht, dass die Gründe für die Errichtung der Mauer weiter bestünden. Ihre Öffnung sei ein unrealistischer Gedanke. Zu den Demonstrationen in der DDR betont er, sie dienten dazu, das Leben in der DDR schöner zu machen. Am Abend kommt es in Frankfurt/Oder Freital, Ilmenau, Neubrandenburg und zahlreichen weiteren Orten zu Demonstrationen für gesellschaftliche Erneuerung.

2.11. In Erfurt demonstrieren 50.000, in Gera 10.000, in Guben 15.000 und in Halle 10.000 Menschen für Reformen. In Erfurt muss SED-Oberbürgermeisterin Rosemarie Siebert (SED) ihre Ansprache nach wenigen Sätzen auf Grund von Pfeifkonzerten und lauten Sprechchören abbrechen. In Dresden werden gegen 70 Angehörige der Sicherheitskräfte wegen Übergriffen auf Demonstranten Ermittlungsverfahren eröffnet. Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (SED) räumt ein: „Es hat eindeutig Übergriffe gegeben.“ Gewerkschaftschef Harry Tisch, mehrere SED-Bezirkschefs sowie Volksbildungsministerin Margot Honecker treten zurück.

Vor der in Erfurt tagenden Synode der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen äußert Bischof Christoph Demke massive Kritik an der SED-Führungspraxis.

3.11. Die DDR-Regierung beschließt, dass Bürger der DDR das Land ohne Formalitäten über das Gebiet der Tschechoslowakei verlassen können. Daraufhin kommt es in den folgenden Tagen zu einer erneuten Ausreisewelle. Auch die nahezu 5.000 DDR-Bürger in der bundesdeutschen Botschaft in Prag können mit dem Zug direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Das SED-Politbüro spricht sich für die Schaffung eines Verfassungsgerichts und die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes aus. Das Ost-Berliner Stadtparlament beruft eine Kommission zur Untersuchung der Übergriffe vom 7. und 8. Oktober. Auf der in Erfurt tagenden Synode der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen wird die Arbeit der DDR-Staatssicherheit massiv kritisiert. Viele Menschen hätten die Sorge, dass die von der SED vollzogene „Wende“ von der Staatssicherheit wieder beendet werde, betont Propst Joachim Jaeger (Erfurt). Die DDR-Führung erlässt für den umstrittenen Bau eines Chemiewerkes in Dresden einen Baustopp. An mindestens 27 Orten gehen wieder Tausende für Reformen auf die Straße.

4.11. Die Ost-Berliner Innenstadt erlebt die größte nicht-staatliche Demonstration in der DDR-Geschichte mit nahezu einer Million Teilnehmern. Unter den Rednern der Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz sind die Schriftsteller Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym sowie als Vertreter der neuen oppositionellen Vereinigungen Marianne Birthler, Konrad Elmer, Jens Reich und Friedrich Schorlemmer. Auf Vorbehalte stoßen Redner wie Markus Wolf und Günter Schabowski, die mehrfach ausgepfiffen werden. Das Fernsehen überträgt die Veranstaltungen direkt und unangekündigt. In Magdeburg demonstrieren 40.000, in Altenburg 12.000 sowie in Arnstadt und Potsdam mehrere Tausend Menschen. Insgesamt gehen an diesem Tag die Menschen in rund 50 Orten auf die Straße.

5.11. In der Ost-Berliner Gethsemanekirche setzen Mitglieder der Staatskapelle mit einem weiteren „Konzert gegen Gewalt“ die Aktionen gegen Gewaltmissbrauch in Staat und Gesellschaft fort und übergeben 8.000 Mark für den Solidaritätsfonds zu Gunsten der Opfer der Übergriffe. Zehntausende demonstrieren in Dresden für besseren Umweltschutz. In Gera fordern Demonstranten die Streichung des SED-Führungsanspruchs aus der Verfassung. In Greifswald entzieht die Synode der pommerschen Kirche ihrem seit 1972 amtierenden Bischof Horst Gienke nach mehrmonatigen Kontroversen um seine Amtsführung und um die Einladung von Erich Honecker in den Dom der Hansestadt das Vertrauen.

6.11. Die DDR-Medien veröffentlichen den Entwurf eines Reisegesetzes. Danach kann jeder Bürger der DDR für maximal 30 Tage pro Jahr ins Ausland reisen, sofern er dies beantragt und eine Genehmigung erhält. Der Entwurf stößt auf heftige öffentliche Kritik. Der zuständige Volkskammerausschuss verwirft die Vorlage bereits am nächsten Tag. In Ost-Berlin wird der Aufruf zur Gründung einer „Grünen Partei“ verbreitet. Am Abend kommt es zur bislang größten Protestwelle im Land. In mehr als 70 Orten gehen die Menschen auf die Straßen. Aus Dresden werden über 100.000, aus Halle 60.000 und aus Karl-Marx-Stadt 50.000 Demonstranten gemeldet. In Leipzig, wo sich über 200.000 Menschen an der Montagsdemonstration beteiligen, wehren Mitglieder des „Neuen Forums“ einen Marsch auf die Stasi-Zentrale in der Messestadt ab. In Ost-Berlin ordnet Stasi-Chef Erich Mielke (SED) die Vernichtung der Akten an.

7.11. Nach harscher Kritik am Reisegesetz tritt der DDR-Ministerrat unter Willi Stoph geschlossen zurück. Vor dem Gebäude des SED-Zentralkomitees in Ost-Berlin kommt es zu einer ersten Demonstration von mehreren Tausend SED-Genossen. Sie kritisieren den

Wahlbetrug vom 7. Mai und fordern den Rücktritt der Parteiführung. Demonstrationen werden am Abend auch aus mehr als 30 weiteren DDR-Orten gemeldet. Die vom Ost-Berliner Magistrat eingesetzte Kommission zur Untersuchung der gewalttätigen Übergriffe auf friedliche Demonstranten streitet sich auf ihrer ersten Zusammenkunft über Struktur- und Verfahrensfragen. Nach Kontroversen um die Zusammensetzung einigt sich das Gremium darauf, künftig zusammen mit der unabhängigen Kommission zu tagen, die von kirchlichen und nichtkirchlichen Oppositionsgruppen getragen wird. Vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Bad Krozingen ruft deren Präses Jürgen Schmude zu „nachhaltiger Hilfe“ für die Menschen in der DDR auf. Im West-Berliner „Rias“ warnt der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Martin Kruse, vor Bevormundung der Ostdeutschen und vor der Vorstellung, die Wiedervereinigung durch Anschluss zu erreichen.

8.11. Das Politbüro tritt geschlossen zurück. Vor dem Gebäude des SED-Zentralkomitees demonstrieren 15.000 SED-Genossen. Egon Krenz wird erneut zum Generalsekretär gewählt. Noch immer verlassen täglich etwa 10.000 Menschen das Land. Das Neue Forum (NF) wird als Vereinigung zugelassen.

9.11. Der Sprecher des SED-Zentralkomitees, Günter Schabowski, teilt auf einer Internationalen Pressekonferenz in Ost-Berlin mit, dass der Ministerrat auf Beschluss des Politbüros eine Reiseregelung beschlossen habe, die eine kurzfristige Erteilung von Visa ohne Voraussetzungen vorsieht. Noch am selben Abend strömen Tausende in Ost-Berlin zu den Grenzübergängen. Am späteren Abend geben die Grenzbehörden dem Druck nach und lassen die Menschen in beide Richtungen unbehelligt passieren. Sprecher der oppositionellen Gruppen sowie neuer und etablierter Parteien sprechen sich in Ost-Berlin für eine „große Koalition der politischen Vernunft“ aus. Nur eine solche Koalition könne die vielfältigen Probleme in Staat und Gesellschaft am „runden Tisch“ lösen, betont Pfarrer Rainer Eppelmann vom „Demokratischen Aufbruch“. Die EKD-Synode unterstreicht in Bad Krozingen ihre Verbundenheit mit den DDR-Kirchen und ruft zu Dankgottesdiensten auf.

10.11. In West-Berlin feiern Hunderttausende den Fall der Mauer. Auch vor den Grenzübergängen nach Westdeutschland stauen sich die Schlangen. An mehreren Stellen der Mauer werden Durchbrüche geschaffen. Es kommt zu überschwänglichen Freudenszenen; fremde Menschen umarmen sich, singen, tanzen und jubeln. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bricht seinen Polen-Besuch ab, um am Abend vor dem Schöneberger Rathaus in West-Berlin auf einer Kundgebung zu sprechen. Der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt prägt dort den Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“. Der amtierende DDR-Innenminister Friedrich Dickel kündigt weitere Übergänge an. An einer Kundgebung der SED im Ost-Berliner Lustgarten nehmen rund 100.000 Parteimitglieder teil. Die DDR-CDU wählt in Ost-Berlin Rechtsanwalt Lothar de Maiziere zu ihrem Vorsitzenden. In Bad Krozingen ermuntert der EKD-Ratsvorsitzende Martin Kruse, die Besucher aus der DDR gastfreundlich aufzunehmen. Der Präsident des Diakonischen Werkes, Karl Heinz Neukamm (Stuttgart), appelliert an die Kirchen, ihre Freizeit- und Erholungsheime für DDR-Übersiedler zur Verfügung zu stellen.

11.11. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und SED-Generalsekretär Egon Krenz erörtern in einem Telefongespräch Möglichkeiten einer Intensivierung der Zusammenarbeit und einigen sich auf eine baldige persönliche Begegnung. An der West-Grenze der DDR strömen Hunderttausende mit Fahrzeugen Richtung Bundesrepublik. Es entstehen Staus von über 50 Kilometern Länge. Auf westlicher Seite werden die Besucher in volksfestartiger Weise begrüßt. Der Verkehr in den grenznahen Gebieten bricht teilweise zusammen. Zu Verzögerungen kommt es besonders auch bei der Auszahlung des Begrüßungsgeldes. Die

Leitung des evangelischen Kirchenbundes mahnt zur Besonnenheit und unterstreicht die Forderung nach freien und geheimen Wahlen sowie „Wahrhaftigkeit in der Information“. Ungeachtet der Maueröffnung setzen die Menschen ihre Proteste für demokratische Reformen in über 20 Orten fort.

12.11. In Leipzig demonstrieren 6.000 SED-Genossen gegen den örtlichen Parteiapparat. Auch in anderen Städten der DDR finden Kundgebungen und Versammlungen der SED statt, auf denen die Basis eine „Erneuerung der Partei von unten“ fordert. Das Neue Forum appelliert in einer Erklärung an die DDR-Bevölkerung, sich nicht von der Forderung nach politischen Reformen abbringen zu lassen. „Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.“

13.11. Volkskammerpräsident Horst Sindermann(SED) tritt zurück. Sein Nachfolger wird der Chef der Bauernpartei, Günther Maleuda. Nach Abberufung des amtierenden Ministerrates wählt die Volkskammer den „Reformkommunisten“ Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten. Die DDR hebt die Sperrzonen entlang ihrer Grenzen auf. In zahlreichen Orten gehen die Montagsdemonstrationen trotz Maueröffnung und Reiseerleichterung weiter. In Leipzig nehmen am wöchentlichen Marsch über den Innenstadtring rund 200.000 Menschen teil. Über Megafon warnen Sprecher des „Neuen Forums“ vor einem „Ausverkauf“ des Landes. Erneut demonstriert wird unter anderem in Cottbus, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Neubrandenburg und Schwerin. In Greifswald erklärt Bischof Horst Gienke seinen Rücktritt. Er zieht damit die Konsequenz aus der vielfältigen Kritik an seinem kirchenpolitischen Kurs.

14.11. Führende Vertreter der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik rufen zur Unterstützung der zahlreichen Besucher aus der DDR, aber auch der Menschen in der DDR auf. Die evangelische Kirche sei die „wirksamste Klammer“ zwischen beiden deutschen Staaten, erklärt der rheinische Präses Peter Beier (Düsseldorf). Der Ost-Berliner Konsistorialpräsident Manfred Stolpe gesteht bei der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde in Greifswald selbstkritisch ein, dass die Kirchenleitungen zu lange Geduld gepredigt und Unruhige beschwichtigt hätten, „wo es richtiger gewesen wäre, sich ihren Protest voll zu eigen zu machen“. In gut 30 Orten gehen am Abend wieder Tausende zu Demonstrationen auf die Straße.

15.11. Die Bundesregierung beschließt, die Mittel für das an Besucher aus der DDR gezahlte „Begrüßungsgeld“ auf knapp 780 Millionen Mark zu erhöhen. In Ost-Berlin kommt es erstmals zu einem Fachgespräch über schulisch-pädagogische Fragen zwischen Vertretern der evangelischen Kirche und des DDR-Volksbildungsministeriums. Dabei gehen die DDR-Bildungspolitiker erstmals auf Distanz zu der seit Jahren propagierten „kommunistischen Erziehung“. Die Politiker Kurt Biedenkopf (CDU) und Georg Leber (SPD) schlagen die Gründung einer „Solidaritätsstiftung des deutschen Volkes“ zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der DDR vor. Aus über 30 Städten werden Demonstrationen gemeldet.

16.11. Die „Berliner Zeitung“ (SED) und die „Neue Zeit“ (DDR-CDU) beginnen damit, auch die Programme westlicher Fernsehsender zu veröffentlichen. In Bonn erklärt Bundeskanzler Kohl, dass seine Regierung am Ziel der Wiedervereinigung festhalte, sie aber den Menschen in der DDR nicht aufzwingen wolle. Der DDR sichert er wirtschaftliche Hilfe zu. Voraussetzung sei allerdings ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems. Als erstes Mitglied des Warschauer Paktes stellt Ungarn einen Aufnahmeantrag für den Europarat.

17.11. Ministerpräsident Modrow stellt in der Volkskammer sein neues Kabinett mit 28 Ministern vor. 16 von ihnen gehören der SED, vier der LDPD, drei der DDR-CDU und je zwei der DBD und der NDPD an. In seiner Regierungserklärung kündigt er einschneidende Reformen des politischen Systems, der Wirtschaft, des Bildungswesens und der Verwaltung an. Das Ziel sei eine „neue sozialistische Gesellschaft“. Der Bundesregierung schlägt er einen Ausbau der Beziehungen hin zu einer „Vertragsgemeinschaft“ vor. Spekulationen über eine Wiedervereinigung erteilt Modrow eine klare Absage. Das Innenministerium hat nach eigenen Angaben inzwischen 154 neue politische Gruppierungen registriert. Tausende demonstrieren am Abend in über 25 Städten gegen das Machtmonopol der SED.

18.11. Hunderttausende DDR-Bürger starten am zweiten Wochenende mit offener Grenze zu Kurzbesuchen nach Westdeutschland und West-Berlin. Trotz zügiger Abfertigung kommt es zu kilometerlangen Staus an den Grenzübergängen. Die DDR-Volkskammer beruft einen Untersuchungsausschuss zur Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption. Vor der Volkskammer berichtet DDR-Generalstaatsanwalt Günter Wendland, dass bei den gewalttätigen Übergriffen der Sicherheitskräfte Anfang Oktober 3.456 Personen „zugeführt“ und gegen 630 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien. In Ost-Berlin, Dresden, Leipzig und mindestens 24 weiteren Orten demonstrieren weit über 150.000 Menschen gegen den Führungsanspruch der SED und für freie Wahlen. An der ersten offiziell genehmigten Kundgebung des „Neuen Forums“ nehmen in der Messestadt über 50.000 Menschen teil. Das Ministerium für Staatssicherheit wird in „Amt für Nationale Sicherheit“ umbenannt.

19.11. Trotz reger Reisewelle und in Aussicht gestellter Reformen kommt es überall im Land zu Demonstrationen und Protesten. In Dresden fordern 70.000 Menschen freie Wahlen und das Ende des SED-Machtanspruchs. In Potsdams Erlöserkirche diskutieren Vertreter des „Neuen Forums“ mit dem Rektor der SED-Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Otto Reinhold. In Ost-Berlin beginnt der Grafiker Manfred Butzmann die Mauer von der Ostseite zu bemalen.

20.11. Die Bundesregierung nennt freie Wahlen, Zulassung oppositioneller Parteien, Verzicht auf SED-Führungsanspruch, Einführung marktwirtschaftlicher Mechanismen sowie Reiseerleichterungen und Abschaffung des Pflichtumtausches für Bundesbürger als Vorbedingung für Wirtschaftshilfe. In über 40 Orten demonstrieren wieder Tausende für Reformen, rund 250.000 Menschen allein in Leipzig und 50.000 in Halle. Den Aufruf des „Neuen Forums“ mit der Forderung nach freien Wahlen und demokratischen Reformen haben inzwischen mehr als 200.000 Menschen unterzeichnet. In Prag demonstrieren Hunderttausende gegen das Machtmonopol der Kommunisten. Der rumänische Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu (1918-1989) lehnt auf dem Parteikongress der KP in Bukarest jegliche Reformen ab.

21.11. Sprecher des „Neuen Forums“ erörtern in einem mehrstündigen Gespräch mit dem SED-Bezirkschef von Karl-Marx-Stadt, Norbert Kertscher, Fragen der Verfassungsreform, des Wahlgesetzes und der Rechtssicherheit. Die Reformgruppe „Demokratie Jetzt“ lädt alle oppositionellen Gruppen und Parteien zu einem „Runden Tisch“ ein, um zu einem abgestimmten Handeln zu kommen. In über 20 Orten der DDR gehen wieder Tausende auf die Straße. Immer häufiger werden die Auflösung der DDR-Staatssicherheit und der Zugang zu ihren Akten gefordert.

22.11. Die SED-Führung erklärt sich auf Drängen der Opposition zu Gesprächen über die Zukunft des Landes an einem zentralen „Runden Tisch“ bereit. „Demokratie Jetzt“ fordert von

der SED-Führung die Offenlegung des gesamten Parteienvermögens sowie der Devisenbeschaffung durch parteieigene Außenhandelsbetriebe. Die DDR-CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden Lothar de Maizière spricht sich in einer Erklärung für eine „Konföderation“ beider deutscher Staaten aus, in der sich die „Einheit der Nation“ widerspiegeln soll. Am Abend kommt es in rund 20 Orten zu Demonstrationen gegen die SED und die Staatssicherheit.

23.11. Der Leiter des neuen „Amtes für Nationale Sicherheit“, Wolfgang Schwanitz, kündigt an, der frühere DDR-Geheimdienst werde um 8.000 Mitarbeiter verkleinert.

Die SED schließt den für Wirtschaftsfragen zuständigen SED-Funktionär Günter Mittag aus der Partei aus, gegen Erich Honecker wird ein Parteiverfahren eingeleitet. Gleichzeitig werden Robert Havemann, Rudolf Herrnstadt, Lex Ende und Walter Janka rehabilitiert. In Erfurt, Gera, Rostock und anderen Städten demonstrieren erneut Zehntausende für Reformen in der DDR. In Prag tritt die Führung der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei zurück.

24.11. Die Oppositionsgruppen in der DDR einigen sich in Ost-Berlin darauf, den Dialog am Runden Tisch mit der SED und den Blockparteien am 7. Dezember zu beginnen. Einer Umfrage von DDR-Soziologen zufolge wollen 83 Prozent der Bevölkerung, dass die DDR als ein souveräner sozialistischer Staat erhalten bleibt. In Prag dankt die kommunistische Regierung auf Druck der Bürgerbewegung unter Alexander Dubcek und Vaclav Havel ab. Bei den abendlichen Demonstrationen wird die Nachricht mit stürmischem Beifall begrüßt.

25.11. In 17 Orten gehen die Menschen wieder auf die Straße. In Plauen/Vogtland nehmen an der wöchentlichen Demonstration trotz Schnee und Eis rund 5.000 Menschen teil. Dabei wird erstmals auch die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten gefordert.

26.11. Namhafte Persönlichkeiten der DDR und Angehörige von Reformgruppen veröffentlichen einen Aufruf, der sich für eine eigenständige DDR ausspricht. Er trägt den Titel „Für unser Land“ und plädiert für eine solidarische Gesellschaft, die Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des Einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleitet. Zu den Erstunterzeichnern gehören die Schriftsteller Christa Wolf, Volker Braun und Stefan Heym sowie der Theologe Friedrich Schorlemmer. Das „Neue Forum“ beendet in Ost-Berlin eine zweitägige Konferenz mit Experten aus Ost und West über Wirtschaftsreformen in der DDR.

27.11. In mehreren Städten beteiligen sich Hunderttausende an Kundgebungen und Demonstrationen für demokratische Erneuerung. In Leipzig fordern etwa 200.000 Menschen freie Wahlen, Meinungsfreiheit und Bestrafung ehemaliger SED-Funktionäre. Erstmals ertönt auch der Ruf „Deutschland, einig Vaterland“. In Schwerin fordern 10.000 Demonstranten in Sprechchören „Stasi in die Volkswirtschaft“.

28.11. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) schlägt in Bonn in einem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der deutschen Teilung Deutschlands und Europas“ die Bildung einer deutsch-deutschen Konföderation vor. Nach anfänglicher Zustimmung rücken FDP und SPD von dem Plan ab, da weder die Alliierten vorab unterrichtet wurden, noch die polnische Westgrenze zugesichert sei. Der Dresdner Superintendent Christof Ziemer äußert sich besorgt über die Eskalation der sozialen Probleme im Land.

29.11. DDR-Kulturminister Dietmar Keller teilt mit, dass zum 1. Dezember die Vorzensur für Bücher abgeschafft wird. Der stellvertretende Umweltminister Frank Herrmann ruft die

Kirchen und ihre Umweltgruppen zu engerer Zusammenarbeit auf. Am Abend fordern Zehntausende bei Demonstrationen in zahlreichen Orten den konsequenten Abbau von Privilegien und eine lückenlose Aufdeckung von Korruption und Amtsmissbrauch. Wiederholt kritisiert wird auch Kohls Zehn-Punkte-Plan. Der DDR-Staatsratsvorsitzende Egon Krenz sowie Ministerpräsident Hans Modrow schließen sich dem Aufruf „Für unser Land – zur Bewahrung der Eigenständigkeit der DDR“ an. In der CSSR wird der Führungsanspruch der Partei aus der Verfassung gestrichen.

30.11. In Erfurt und anderen Städten demonstrieren wieder Zehntausende gegen Korruption und Amtsmissbrauch. Aus gleichem Anlass kommt es auch zu einigen Warnstreiks. In Rostock und Gera fordern die Demonstranten die Auflösung der Staatssicherheit. Die tschechoslowakische Regierung gibt den Abbau der Grenzsperren zu Österreich bekannt.

DEZEMBER 1989

1.12. Die DDR-Volkskammer streicht die „führende Rolle“ der SED aus der Verfassung. In einem weiteren Beschluss entschuldigt sie sich beim Volk der Tschechoslowakei für die Teilnahme der DDR am Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968. Der Bundestag in Bonn billigt ohne die Stimmen von SPD und Grünen das Zehn-Punkte-Programm von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). 13 Jahre nach seiner Ausbürgerung gibt Wolf Biermann in Leipzig erstmals wieder ein Konzert in der DDR. In über 15 Orten gehen am Abend die Menschen wieder auf die Straße.

2.12. Vor dem SED-Zentralkomitee fordern Tausende Parteimitglieder eine radikale Erneuerung ihrer Partei sowie den Rücktritt der Parteiführung. Zentrale Forderung bei Demonstrationen in 28 Städten ist das Ende der SED-Herrschaft und die Auflösung der Staatssicherheit. Ein Bericht des Untersuchungsausschusses der DDR-Volkskammer legt Korruption in der SED-Spitze offen. Daraufhin kommt es im Parlament zu Tumulten. Auch beim Gipfeltreffen von US-Präsident George Bush und dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow steht die deutsche Frage im Mittelpunkt.

3.12. Politbüro und Zentralkomitee der SED erklären ihren Rücktritt. Erich Honecker, Willi Stoph, Erich Mielke und zahlreiche andere ehemalige SED-Spitzenfunktionäre werden aus der Partei ausgeschlossen. Der Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, Alexander Schalck-Golodkowski, flüchtet über West-Berlin in den Westen. Mit einer Menschenkette von Saßnitz auf der Insel Rügen bis nach Zittau an der Grenze zur Tschechoslowakei bekräftigen Tausende DDR-Bürger aller Altersstufen ihren Willen zur gesellschaftlichen Erneuerung. Die ehemaligen Politbüromitglieder Günter Mittag (1926-1994) und Harry Tisch (1927-1995) werden wegen schwerer Schädigung des Volkseigentums und der Volkswirtschaft verhaftet. Am Abend gehen wieder Tausende auf die Straße.

4.12. In Erfurt dringen am Vormittag erstmals aufgebrachte Bürger in die Dienststelle des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit ein, um zu verhindern, dass Stasi-Akten als Beweismaterial vernichtet werden. Die Nachricht über die Besetzung der Erfurter Behörde, die inzwischen den Namen „Amt für Nationale Sicherheit“ trägt, breitet sich in der gesamten DDR wie ein Lauffeuer aus und führt am Abend zu weiteren Besetzungen. In einem „Appell der Vernunft“ fordern prominente Künstler, Wissenschaftler, Kirchenleute und SED-Funktionäre von der DDR-Regierung, ab sofort sogenannte „Bürgerkomitees“ an der Aufklärung von Korruption und Machtmissbrauch zu beteiligen. Die DDR-CDU verlässt wie die LDPD den Demokratischen Block und fordert Egon Krenz dazu auf, vom Vorsitz im Staatsrat und im Nationalen Verteidigungsrat zurückzutreten. Die SDP schlägt den 6. Mai 1990 als Termin für freie Wahlen vor. An den abendlichen Demonstrationen in rund 60 Orten

beteiligen sich in Dresden, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg jeweils rund 60.000 Menschen. In Leipzig sind über 150.000 Demonstranten auf der Straße.

5.12. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters (CDU) vereinbart bei einem Treffen mit Ministerpräsident Hans Modrow (SED) einen gemeinsamen Devisenfonds sowie die Aufhebung von Zwangsumtausch und Visumspflicht. In Ost-Berlin tritt die Leitung des Ministeriums für Staatssicherheit, das Kollegium, geschlossen zurück. In Suhl und 30 anderen Orten erzwingen Demonstranten den Zugang zu den ehemaligen Stasi-Behörden.

6.12. Egon Krenz tritt als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zurück. Sein Nachfolger wird der Vorsitzende der LDPD, Manfred Gerlach. Auf Einladung mehrerer Oppositionsgruppen besucht der Dalai Lama erstmals Ost-Berlin. In rund 20 überwiegend kleineren Orten der DDR kommt es am Abend wieder zu Demonstrationen, die sich vor allem gegen die Machenschaften der Staatssicherheit richten. In West-Berlin stellt sich der DDR-Devisenbeschaffer und Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel, Alexander Schalck-Golodkowski, der Polizei. In der DDR wird gegen ihn der Vorwurf der „Veruntreuung von Volkseigentum“ erhoben.

7.12. Im Ost-Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus tritt der zentrale „Runde Tisch“ der DDR zu seiner ersten Sitzung zusammen und beschließt, mit der Arbeit an einer neuen Verfassung sofort zu beginnen. Die eigene Arbeit soll nach dem Willen der vorerst 32 Mitglieder des Runden Tisches bis zu den ersten freien, demokratischen und geheimen Wahlen in der DDR fortgesetzt werden. Gefordert wird unter anderem die sofortige Auflösung des aus dem Stasi-Ministerium hervorgegangenen Amtes für Nationale Sicherheit. Beschlossen wird zudem, am 6. Mai 1990 die ersten freien Wahlen abzuhalten. In Erfurt demonstrieren über 15.000 Menschen gegen Gewalt, Rache und Ausländerfeindlichkeit. Am Abend werden aus über 23 Orten Demonstrationen gemeldet.

8.12. Gegen mehrere SED-Spitzenfunktionäre wie Erich Honecker, Erich Mielke und Willi Stoph werden Ermittlungen wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs und der Korruption eingeleitet. Ministerpräsident Hans Modrow ordnet die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit an und beauftragt die Polizei mit der Sicherung der ehemaligen Stasi-Objekte. In den Gefängnissen verschärft sich die Situation trotz der am Vortag erlassenen Teilamnestie. Die abendlichen Demonstrationen richten sich erneut gegen die anhaltende Vorherrschaft der SED, die in Ost-Berlin zu einem Sonderparteitag zusammengekommen ist. Die Leitung des evangelischen Kirchenbundes in der DDR beschließt auf einer Sondertagung in Ost-Berlin einen Appell an die Menschen im Land, die gegenwärtigen Aufgaben ohne Gewalt und Rache, sondern im „Geist der Versöhnung“ zu lösen.

9.12. In Gera ruft die Bezirksverwaltung des Amtes für Nationale Sicherheit zum Putsch gegen die Friedliche Revolution auf. In Plauen fordern über 10.000 Demonstranten einen Volksentscheid zur Wiedervereinigung. Die SED wählt auf ihrem Parteitag in Ost-Berlin Gregor Gysi zum neuen Vorsitzenden. Seine Stellvertreter werden Hans Modrow und der Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Auf einem EG-Gipfel in Straßburg billigen die Staats- und Regierungschefs in einer Grundsatzerklärung zum Wandel in Mittel- und Osteuropa den Deutschen das prinzipielle Recht auf Einheit zu. Der DDR-Kirchenbund beklagt in einer Erklärung „alte Vorurteile“ in der DDR gegenüber Polen.

Im Ost-Berliner Lustgarten demonstrieren Tausende für demokratische Rechte. In Dresden und Magdeburg gehen Kinder und Jugendliche für eine Erneuerung des Bildungswesens auf die Straße. In Plauen fordern über 10.000 Demonstranten einen Volksentscheid zur Wiedervereinigung.

10.12. Zum Tag der Menschenrechte finden erstmals in zahlreichen Orten der DDR Demonstrationen für Menschenrechte und gegen Ausländerfeindlichkeit statt. Der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer wird in West-Berlin „stellvertretend für die Oppositionsbewegung in der DDR“ mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Liga für Menschenrechte ausgezeichnet.

11.12. Auf den Montagsdemonstrationen wird der Ruf nach Wiedervereinigung immer stärker. Erstmals seit 18 Jahren kommt in West-Berlin auf Einladung der Sowjetunion die Viermächtekonferenz im Alliierten Kontrollrat zusammen. Das „Neue Forum“ stellt wegen des Verdachts der Verdunkelung durch Vernichtung strafrechtlich relevanter Akten gegen den ehemaligen SED-Staats- und Parteichef Egon Krenz und den amtierenden Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, Wolfgang Schwanitz, Strafanzeige.

12.12. Als Folge der vom Staatsrat beschlossenen Amnestie werden die ersten politischen Häftlinge freigelassen.

13.12. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel erklärt auf einer gemeinsamen Pressekonferenz beider sozialdemokratischen Parteien den Dialog mit der SED für beendet.

14.12. Die Außenminister der NATO-Staaten sprechen sich für die deutsche Einheit in freier Selbstbestimmung aus. Die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ legt einen „Dreistufenplan zur nationalen Einigung“ vor.

15.12. Auf dem Sonderparteitag der DDR-CDU wird der am 12. November gewählte Parteivorsitzende Lothar de Maizière im Amt bestätigt. Im Deutschen Theater in Ost-Berlin werden erstmals Texte des DDR-Regimekritikers Robert Havemann verlesen.

16.12. Beim Gründungsparteitag des Demokratischen Aufbruchs in Leipzig wird der Rostocker Anwalt Wolfgang Schnur zum Vorsitzenden gewählt. In den westrumänischen Städten Temeswar und Arad bricht der offene Widerstand gegen das Ceausescu-Regime aus. Der Aufstand breitet sich auch auf die Hauptstadt Bukarest aus, wo sich die Armee schließlich auf die Seite der Bevölkerung stellt.

17.12. Bundespräsident Richard von Weizsäcker und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow besuchen überraschend das Weihnachtssingen in der Potsdamer Nikolaikirche.

18.12. Die Vertreter von Opposition und Regierungsparteien am zentralen „Runden Tisch“ werfen bei ihrer zweiten Zusammenkunft in Ost-Berlin der Modrow-Regierung fehlende Kooperationsbereitschaft vor und fordern ein Kontroll- und Vetorecht für die weitere Regierungsarbeit. Eine weitere Forderung betrifft die generelle „Säuberung“ der DDR-Justiz. In einer Erklärung verurteilt der „Runde Tisch“ zudem das brutale Vorgehen der rumänischen Regierung gegen das eigene Volk. An einem Schweigemarsch für die Opfer des Stalinismus beteiligen sich in Leipzig zwischen 150.000 und 200.000 Menschen. Ausgangspunkt ist die Nikolaikirche, in der zuvor das wöchentliche Friedensgebet stattgefunden hat. Auch in Dresden, Halle, Ost-Berlin, und Schwerin kommt es wieder zu Großdemonstrationen.

19.12. Bundeskanzler Kohl trifft zu Gesprächen mit Ministerpräsident Hans Modrow in Dresden zusammen. Beide Regierungschefs vereinbaren Verhandlungen über eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft. Kohl wird bei seiner Ansprache vor der Ruine der Frauenkirche von der Bevölkerung umjubelt.

20.12. Der französische Staatspräsident François Mitterrand trifft zu einem dreitätigen Staatsbesuch in der DDR ein. Mit ihm besucht erstmals ein Staatsoberhaupt der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die DDR.

21.12. In der DDR wird der Schießbefehl für die Grenztruppen offiziell aufgehoben. Die Regierung der CSSR löst die Geheime Staatspolizei des Landes auf.

22.12. In Berlin wird das Brandenburger Tor für Fußgänger geöffnet. Der zentrale „Runde Tisch“ beklagt in Ost-Berlin, dass die schon am 7. Dezember geforderte Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Lage noch nicht erfolgt sei. In Rumänien flieht Diktator Nicolae Ceausescu mit dem Hubschrauber aus Bukarest, wird kurze Zeit später aber zusammen mit seiner Frau verhaftet.

23.12. Die Volksrepublik Polen und der Internationale Währungsfonds unterzeichnen ein Abkommen zur Sanierung der polnischen Wirtschaft.

24.12. Mehr als eine halbe Million Bundesbürger besuchen während der Weihnachtstage die DDR. Sie können erstmals ohne Visum und Zwangsumtausch in die DDR reisen. Auf einem Treffen in Ost-Berlin streiten Mitglieder des „Neuen Forums“ darüber, ob ihr Zusammenschluss Partei werden oder Bürgerbewegung bleiben soll.

25.12. In Rumänien wird der gestürzte Diktator Nicolae Ceausescu mit seiner Frau von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet.

26.12. Bundesaußenminister Dietrich Genscher und sein tschechischer Amtskollege Jiri Dienstbier schneiden in einem symbolischen Akt den Grenzzaun zwischen beiden Staaten am Übergang Waidhaus-Roßhaupt durch. Zehntausende nutzen den zweiten Weihnachtsfeiertag für einen Spaziergang durch das vier Tage zuvor geöffnete Brandenburger Tor in Berlin. In Rumänien wird eine provisorische Regierung gebildet und der Geheimdienst „Securitate“ zur Aufgabe gezwungen. Neues Staatsoberhaupt wird der frühere kommunistische Parteifunktionär Ion Iliescu.

27.12. Beim vierten Treffen des zentralen „Runden Tisches“ in Ost-Berlin verweisen Vertreter der Opposition darauf, dass die im Dezember erfolgte Vernichtung von Stasi-Akten offenbar auf Anweisung des DDR-Ministerrats erfolgt sei. Sprecher der Reformkräfte fordern den DDR-Ministerrat auf, sie künftig vor wichtigen Entscheidungen zu informieren und sie zu beteiligen. Gewandhauskapellmeister Kurt Masur wird in Leipzig mit der Ehrenbürgerwürde geehrt. Der Oberste Sowjet der Sowjetrepublik Lettland macht den Weg zu einem Mehrparteiensystem im Land frei.

28.12. Das tschechoslowakische Parlament wählt die Symbolfigur des Prager Frühlings, Alexander Dubcek, zu seinem Präsidenten.

29.12. Der Schriftsteller Vaclav Havel wird einstimmig zum neuen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt. In der bisherigen Volksrepublik Polen wird die Verfassung geändert. Die Bestimmungen über das Bündnis mit der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten sowie die Führungsrolle der kommunistischen Partei werden gestrichen und der frühere Staatsname „Rzeczpospolita Polska“ (Republik Polen) wieder eingeführt. Das Zentralkomitee der bulgarischen KP beschließt, die Zwangsbulgarisierung der türkischen Minderheit einzustellen.

30.12. In seiner vorab veröffentlichten Neujahrsansprache würdigt Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) den Kampf der Menschen in der DDR und den anderen Ostblock-Staaten für Freiheit, Menschenrechte und Selbstbestimmung. In Karl-Marx-Stadt beraten Vertreter von Basisgruppen des Neuen Forums über die Gründung einer Deutschen Forumspartei. Sie soll vorangegangene Initiativen zur Gründung einer Partei Neues Forum vereinen.

31.12. In Rumänien wird der Chef der gefürchteten Geheimpolizei Securitate, General Julian Vlad, verhaftet. Am Brandenburger Tor in Berlin feiern hunderttausende Menschen aus Ost und West erstmals wieder gemeinsam die Silvesternacht. 135 Menschen werden verletzt, als eine Videowand des Jugendfernsehsenders „Elf 99“ dem Ansturm nicht mehr standhält und zusammenbricht. Die Bundesregierung stellt die Zahlung des Begrüßungsgeldes für DDR-Bürger ein. Im gesamten Monat Dezember sind 43.221 DDR-Bürger in die Bundesrepublik übergesiedelt. Damit sind es seit dem Bau der Berliner Mauer insgesamt knapp 500.000 Menschen, die die DDR seither legal verlassen haben. Hinzu kommen 15.287 Menschen, die als politische Häftlinge von der Bundesregierung „freigekauft“ wurden, sowie 460.000 DDR-Flüchtlinge.